fabula vaporis – Kap. 25

Wenn eine Idee nicht zuerst absurd erscheint, taugt sie nichts.

Albert Einstein

Das Luftschiff bebte, als es in ein Luftloch geriet. Themma herrschte den Kapitän mit ihrer ungewöhnlich kalten, aber sanften Stimme. Dieser gelobte, besser aufzupassen und drehte sich wieder der großen Fensterscheibe zu, von der er aus komplette alles erkennen konnte, was vor dem Luftschiff war. Mit einem Druck auf einen Knopf konnte er sogar bestimmte Teile des Fensters vergrößern, als ob er mit einer Lupe hineinschauen würde.

Themma wandte sich ab und stieg die Treppen, die zur Brücke hinaufführten, herunter. Dann ging sie durch ein Halle und stieg auf der anderen Seite wieder eine Treppe hinauf. Diese Treppe war allerdings breiter und nicht allzu hoch. Am Heck des Luftschiffes war ein kreisrundes Fenster angebracht, das mit dünnen Verbindungsstreben versehen, wie ein Netz aussah, das eine Spinne gewebt hatte. Themma setzte sich in einen Sessel und schenkte sich Tee ein. Dann ergriff sie die Tasse und lehnte sich zurück. Sie ließ die Flüssigkeit in dem Porzellangefäß kreisen, dann nahm sie einen Schluck und sah aus dem Fenster. Die vielen Wolken, die da vorbeischwebten…

Ein Geistesblitz durchfuhr die Kanzlerin und sie rief nach Tildâr, den sie mitgeschleppt hatte. Der Ilaner hatte mächtig damit zu tun, vom Luftschiff aus den Wünschen seiner Gebieterin nachzukommen, versuchte aber, alles zu ihrer vollen Zufriedenheit auszuführen. Dafür hatte er ja einen Computer dabei.
„Tildâr“, sagte die Kanzlerin, während sie aus dem Fenster starrte. „Ich hätte gerne Papier und Stift. Umgehend.“
„Sehr wohl, Kanzlerin“, erwiderte der Mann und stieg die paar Stufen wieder hinunter. Dann verschwand er durch eine mit Kupfer beschlagene Tür in einem Raum und kehrte kurz darauf mit einem Block und einem Stift zurück.

Die Nacht hatte sich in den Straßen Circurs breit gemacht und verschluckte beinahe jegliche Lichtquelle, die vorhanden war. So dunkel war noch nie eine Nacht gewesen. Dennoch konnte man den Weg, auf dem man gehen wollte, mühelos erkennen.
Es war um diese Uhrzeit nicht mehr viel los; nur vereinzelt strichen ein paar Penner und Säufer durch die Gegend und suchten nach einem Unterschlupf für die Nacht, da die Wirte in den Gasthäusern, in denen man sich mit Vorliebe mal einen über den Durst trank, die mächtig Betrunkenen hinauswarfen. Und das auch mal mit Gewalt, wenn es nötig war. Durch diese dunklen und gefährlichen Straßen der Stadt gingen acht Kinder zügig entlang. An einer Kreuzung blieben sie stehen und drei lösten sich von der Gruppe. Der Rest verschwand in die entgegengesetzte Richtung in Richtung des verlassenen Fabrikgebäudes. Carry hatte Acia das kleine Zahnrad anvertraut und fühlte sich von einer mächtigen Last befreit. Sie musste nun nicht mehr achtgeben, dass dieses zerbrechliche kleine Etwas in ihrer Hemdtasche einfach so zerbrechen konnte.

Jones war zornentbrannt. Er hatte seinen Auftrag nicht erfüllen können. Aber er konnte den Kindern immer noch das erste Arkanum abnehmen – oder mit den anderen drei einfach schneller sein. Er beschloss, dass es nicht sinnvoll wäre, die Augen ein paar Stunden zu zutun und machte sich daran, von dieser Plattform herunterzukommen. Er schnürte den Mantel wieder an den Beinen fest und knüpfte ihn auf. Dann zog er zwei Stäbe aus einer etwas längeren Tasche und steckte je einen in eine Schlaufe innerhalb des Mantels. Dann breitete er die Arme aus und ging in die Hocke. Mit einem kraftvollen Absprung stürzte er dem Boden entgegen. Die Luft, die Jones entgegenschlug, als er hinunterschwebte, war so stark, dass er wieder rückwärts geschleudert wurde. Aber schnell hatte er den richtigen Kurs wiedererlangt und flog kontrolliert ein etwas höher gelegenes Dach an, um nicht mit ganz so viel Kraft auf dem Boden aufzukommen. Er machte eine seltsame Bewegung und sein Flug verlangsamte sich stetig. Dann kam er mit einem leisen Geräusch auf dem Dach auf. Dort ruhte er sich ein wenig aus und holte erneut Schwung. Von Dach zu Dach fliegend kam Jones dem Boden immer näher, bis er schließlich die Appia Alta erreicht hatte und dort hart aufschlug. Sichtlich blass um die Nase erhob sich Jones und tastete seine Beinknochen ab.

     Nichts gebrochen.

Er löste die Schnüre, die den Mantel an seinen Beinen hielten, und steckte die Stäbe wieder in die Tasche. Dann huschte er durch die Nacht und brach in irgendeiner Seitenstraße zusammen. Dort blieb er bis zum nächsten Morgen liegen, als die aufgehenden Sonnenstrahlen ihn aus seinem Schlaf kitzelten.
„Morgen zusammen!“, rief Carry und klopfte heftig an die Wohnungstür der Wohnung der Familie Pizarro. „Aufstehen!“ Ein gähnender Junge öffnete die Tür und Josh sah Carry müde an. „Mädel, wir haben doch gerade mal… Ach du Schreck, ich bin gleich da, Jesse!“, rief Josh und eilte in sein Zimmer. Carry grinste und bereitete das Frühstück zu, während Josh sich mit seinem Bruder wieder darüber stritt, wer gefälligst schneller im Badezimmer sein sollte, da der andere sich ja auch noch anziehen müsse. Jesse trat in die Küche und grinste Carry an. „Morgen“, begrüßte der Junge das rothaarige Mädchen und ergriff ein Tablett, das auf der Küchenzeile stand. „Ich gehe schon. Komm sofort wieder“, sagte Jesse und ging zu seiner Mutter. Cerydwen Pizarro lag mit geschlossenen Augen in ihrem Bett und würde von den Geräuschen geweckt, die Jesse machte, als er die Jalousien hochzog und frische Luft ins Zimmer ließ. „Morgen, Jesse“, murmelte Cerydwen mit brüchiger, kranker Stimme.
„Morgen“, erwiderte Jesse. Er schnitt seiner Mutter das Brot klein und diese aß es.
„Wie geht es dir?“, fragte der Junge.
„Gut“, murmelte Cerydwen kauend, obwohl sie nicht danach aussah. „Was macht ihr die ganzen Tage. Ich habe euch… lange nicht hier gesehen…“
„Wir haben uns einer… Jugendgruppe angeschlossen“, antwortete Jesse vorsichtig. Er erwartete jetzt ein Donnerwetter, aber Cerydwen nickte verständnisvoll. Sie musste sich heute tatsächlich besser fühlen, denn so lange Dialoge konnte sie beim besten Willen nicht jeden Tag führen. Jesse war froh darüber. Vielleicht wurde Cerydwen ja auch ohne Acetariol wieder gesund.
„Das ist schön“, sagte Cerydwen langsam. „Aber… kommt nicht zu späte nach Hause… ja? Versprich mir das!“ Ihre Stimme wurde aufdringlicher und Jesse gab ihr sein Versprechen, auch, wenn ihm dabei mulmig zumute war.

Jesse!“, schrie Josh durch die Wohnung. „Jetzt komm endlich!“ – „Ja!“, rief der Angesprochene zurück und stand auf. „Um elf kommt Mrs Silva mal vorbei. Tschüs!“
„Auf Wiedersehen…“, murmelte Cerydwen und sank müde und erschöpft in die Kissen zurück.
„Für Mr Pizarro. Viel Spaß damit“, sagte Mrs Carvan und überreichte Josh seine Kupfertafel.
„Danke“, sagte er monoton und äffte dabei absichtlich den Tonfall von Mrs Carvan nach.
„Hört mal zu“, murmelte die Frau hinter dem Tresen und meinte damit sowohl Josh, als auch seinen Bruder und Carry.
„Die Kanzlerin hat Beschwerde gegen euch eingereicht. An eurer Stelle würde ich vorsichtig sein, mit dem, was ihr da so in eurer Freizeit macht. Ich habe einiges gehört…“ – „Mrs Carvan?“ Carrys Stimme bebte. „Das lassen Sie mal schön unsere Sorge sein, was wir tun und lassen, ja?“ Und mit diesen Worten stiefelte das Mädchen davon, gefolgt von den beiden Jungen, die ebenfalls in das Stockwerk mussten, in dem Carry Unterricht hatte.

Es herrschte eine drückende Hitze, als die drei neuen Controller aus dem Schulgebäude kamen. Acia hatte ihnen zwar gesagt, dass alle minderjährigen Mitglieder noch zur Schule gingen, aber das Gebäude, was eher ein Gebäudekomplex war, war zu groß, als dass man seine Freunde gefunden hätte.
Carry und Josh hatten Jesse ihre Schulhefte gegeben, der sie in seine Umhängetasche gesteckt und dann in einem Schließfach eingeschlossen hatte. „Und was machen wir jetzt?“, fragte Carry, drehte sich zu den Jungen um und bemerkte, dass Josh zur Salzsäule erstarrt war. Das Mädchen winkte mit der Hand nahe vor seinem Gesicht. „Huhu!“, rief sie dabei. „Alles in Ordnung?“ – „Wir gehen sofort zu den anderen Controllern„, wies Josh die anderen an und machte sich auf den Weg in die Fabrikhalle.

Etwa eine Dreiviertelstunde später

Die Controller waren gerade dabei, ihren Tag der Begabungen fortzuführen, als Josh, Carry und Jesse in die Fabrikhalle gestürzt kamen. „Acia!“, brüllte Josh wie ein wildgewordener Hund, der unbedingt das eine Stück Fleisch haben wollte. „Was denn?“, ertönte es von etwas weiter hinten aus der Halle. „Ich weiß, was die Zeichen bedeuten, die die Stimme gesagt hat!“ Die Menge der Kinder und Jugendlichen raunte. Acia hatte alle informiert, weshalb es keinen überraschte, dass von Zeichen die Rede war, die eine Stimme geflüstert hatte. „Brechen wir es ab“, seufzte Acia und stand auf. Die anderen Controller versammelten sich um die Bühne und Lionel gab ihnen Anweisungen, die Acia ihm gegeben hatte. „Und?“, fragte das Mädchen und kam auf Josh zu.

„vt: Verbotener Teil, x: Sichtigkeit, a: Achtung, Pfeil nach rechts: Richtung passierbar…“, sprudelte es aus dem Jungen hervor, der ein hervorragendes Gedächtnis hatte und zudem auch einer der besten war, die die Kombinationsgabe besaßen.
„Du meinst…“, fragte Carry mit zitternder Stimme. „Du meinst, wir müssen in die Kanalisation?“
„Bitte?“ Acia war sichtlich irritiert. „Woher wisst ihr das denn?“
„Wie waren mal da“, antwortete Jesse knapp. „Und haben da Lionel und Askar getroffen…“
„…ah, ja. Ich erinnere mich. Da sind ja diese Wegweiser angebracht…“, beendete Acia und hielt sich die Hände wie einen Trichter vor den Mund. „Lionel, Caitlin, Dillion, Jason!“, rief sie durch die Halle. „Wir brechen auf. Das zweite Arkanum wartet auf uns. Nein… Lionel? Kannst du hierbleiben. Dann… suche mal den Plan raus, den ich gemacht habe und sag den anderen, was sie tun sollen, ja?“

„Was wäre das denn so?“, erkundigte sich Carry, das mit den Gewohnheiten der Controller noch nicht ganz so vertraut war. „Eine kleine Sprengung hier, einen Aufstand da… Eben solche revolutionären Bewegungen“, antwortete Acia. „Der Plan, Lionel, liegt in meinem Zimmer. Jason? Nimmst du den Computer mit?“ Und dann brachen die sieben Kinder auf, um den Weg in die Kanalisation zu finden.

Vom Dach der Fabrik sah ihnen eine dunkle Silhouette hinterher. Netterweise hatten die Controller Jones direkt zu ihrem Schlupfwinkel geführt. Und seine Beute beobachtete man am besten direkt von da an, wo sie aufbrach. Und das hatte Jones jetzt vor. Die Kanzlerin hatte er nicht finden können. Maat Harvorskeyn hatte ihm gesagt, dass die Kanzlerin zurzeit nicht anwesend wäre; und die Vertretung musste das immerhin wissen. Da Harvorskeyn Jones nicht hatte sagen wollen, wo sich Themma Tighhoor aufhielt, hatte er überlegen müssen, wie er an die anderen Arkana kam. Und da hatte er sich an die Controller gehangen und sie auf Schritt und Tritt verfolgt.

     Das zweite Arkanum war zum Greifen nahe.

     Das Arkanum des Wassers – in den Tiefen der Kanalisation Circurs verborgen.

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