fabula vaporis – Kap. 51

Themma Tighhoor war nur kurz mit ihrer Gondel weggefahren, da sie sich Hilfe bei ihrer alten Freundin holen wollte. Androma war der Name dieser Freundin und, da die beiden sich nie einer Meinung gewesen waren, als Androma noch im Palast weilte, hatte diese Themma den Rücken zugekehrt, und war in das Nördliche Innenviertel gezogen. Das einzige, was sie zur Verwirklichung benötigt hatte, hatte Locor Narcana geschaffen, als er noch im Dienst der Kanzlerin gearbeitet hatte. Seine Flugstäbe waren wirklich unverbesserlich. Kaum nahm man sie in die Hand, hatte das nicht allzu starke Magnetfeld, das von den Rädern der Stadt ausging, eine größere, gebündelte Wirkung und man flog, wohin man wollte. Steuern ließ sich das Ganze mit Hilfe von Auftrieb, Kleidung, die man anhatte, und allerlei Physik, die Locor Narcana Androma erläutert hatte. Alle, die Andromas Gruppe beigetreten waren, hatten einen solchen Flugstab bekommen. Es gab zwar keine mehr auf dem Markt zu kaufen, aber es wollte auch niemand Andromas Gruppe mehr beitreten. Sie hatte dreiunddreißig Mitglieder – sich eingeschlossen –  und nicht weniger Flugstäbe. Wer ein Crossing Over-Phänomen besaß, wurde ohne große Reden einfach ausgelöscht. Aus gutem Grund: Androma wollte nicht, dass irgendein dahergelaufener Bürger, oder gar ein Mitglied, etwas von ihren geheimen Plänen mitbekam. Die Mitglieder ihrer Gruppe hatte Androma aus diesem Grund auch mehrmals überprüft und überprüfen lassen. „Wenn du willst“, sagte sie sich immer. „Dass weder Themma, noch ein anderer Idiot etwas von dir erfahren soll, dann vernichte sie alle.“ Und daran hielt sie sich akribisch. Dass ihre beste Freundin, Themma Tighhoor, ein Crossing Over-Phänomen besaß, störte Androma maßlos, aber da es eben die Kanzlerin war – und die ein oder anderen Beziehung zum höchsten Rang des Macht-Cursus konnte nie schaden – versuchte Androma, es zu verkennen. Das war auch der Grund, dass sie aus dem Palast gezogen war und nun in der Castrum-Appia ein großes Haus zum Quartier umfunktioniert hatte. Sonst hätte sie Themma noch irgendwann erstochen. Sie hatte Themma allzu lang nicht mehr gesehen und bereute es auch schon ein wenig. Irgendwann mussten die beiden noch einmal Tee zusammen trinken, oder irgendetwas anderes machen, aber momentan hatte Androma keine Lust dazu. Sie hatte auch viel um die Ohren. Ihre Mitarbeiter zogen es vor, im Geheimen zu arbeiten und die guten Dinge mit viel Brimborium zu vernichten. Und konnte auch mal ein sattes Sümmchen kosten. Alles in allem war Androma mit sich zufrieden. Ihre Gruppe hatte einen berüchtigten Namen, der alle bis ins Mark traf, wenn er ihn hörte. Androma war berüchtigt und besessen von ihrem Ziel, alles Gute auszulöschen.

     Und ihre Concordiatoren halfen ihr dabei, wo es nur ging.

Themma war an einer Haltestelle auf der Castrum-Appia ausgestiegen und hatte Hausnummer 5 aufgesucht. Ein von außen durchaus schönes Haus. Es war groß, hatte viele Fenster. Der einzige Schönheitsfehler lag hinter den Glasscheiben. Dort hingen graue Vorhänge und selbst mit einem Fernglas hätte man nichts erkennen können, außer purem Grau. Themma klingelte und wartete, bis eine famos aussehende Frau die Tür öffnete. Sie hatte brünettes Haar und ein Gesicht, wie aus dem Bilderbuch. Sie trug einen akazienfarbigen Rock, der bis zu ihren Waden reichte. Hohe braune Lederstiefel verschwanden unter dem Saum. Ein Gürtel, dessen Schnalle die Form einer Kralle hatte, umschlang die Taille der Frau und hielt eine beigefarbene Bluse, die in den Rock gestopft war. Androma hatte ihre Haare nach hinten gesteckt, was ihr beinahe zum Aussehen einer Lehrerin verlieh. „Androma“, sagte Themma, als die Besitzerin des Hauses die Tür aufgerissen hatte. „Ich brauche deine Hilfe.“

     „Worum geht’s?“, fragte Androma und blickte kühl in das Gesicht der Kanzlerin.

     „Um die Concordiatoren. Sie müssen helfen, das Gute auszulöschen.“

Androma schien nicht zu bemerken, dass Themma das Satzkonstrukt ‚Sie müssen helfen, das Gute auszulöschen‚ absichtlich gewählt hatte, damit Androma half. Sie blickte an sich herunter und dann in Themmas Gesicht. „Ich nehme an“, erwiderte die Frau. „Dass du meine Hilfe nur benötigst, um einen Aufstand niederzuschlagen. Aber ich helfe dir gern. So unter Freunden.“ Das letzte Wort kostete Androma doch einige Mühen. „Dann sei doch in einer Stunde im Innenhof des Palastes“, beorderte Themma, drehte sich um und verschwand wieder. Die Frau in der Tür nickte und läutete eine Glock, die in den Flur hing, der sich hinter Androma erstreckte. Eine andere Glocke erwiderte das Geläut und Androma nickte zufrieden. Sie griff in die Rocktasche und beförderte einen kleinen Stab, kaum größer als der Griff eines Fensters, ans Tageslicht, den sie in die Faust nahm. Kurz darauf schwebte sie gen Himmel. Aus einem großen Dachfenster folgten ihr zweiunddreißig andere Personen. Ihr Ziel war der Palast der Macht.

Acia erblickte am Himmel dunkel Gestalten – dreiunddreißig an der Zahl – die geradewegs in den Innenhof des Palastes flogen. Ihre Gesichter waren auf das Portal gerichtet, vor dem kleine Stufen auf einem Vorplatz führten. Die Torflügel öffneten sich, als die Gestalten näher kamen. Dann flogen sie durch das Portal ins Innere und es schloss sich wieder.

     „Habt ihr das gesehen?“, fragte Acia die anderen beiden.

     „Na klar“, murmelten Carry und Caitlin.

     „Wer war das?“, erkundigte sich Carry.

     „Ich weiß es nicht“, gestand Acia.

Vor den Kindern lagen noch fünfzig Meter bis zur Palastmauer. „Kommt“, murmelte Acia. „Dann lasst uns weitergehen.“ Die Sonne war inzwischen ganz aufgegangen und tauchte den Innenhof in ein warmes Licht. Zumindest den Teil, der auf der anderen Seite des Hofes lag, und die Hälfte des Wegs, da der andere Teile im Schatten des Außenflügels lag, an dem sich Carry, Caitlin und Acia entlangschlichen, um kurz darauf an der Mauer anzukommen, die ein Teil des Hauptkomplexes war.

     „Kommt“, murmelte die Anführerin der Controller.

     „Was willst du denn machen?“, fragte Carry leise.

     „Caitlin?“, fragte Acia nur. „Wo befinden sich Dillion, Giada und Josh?“

„In der Eingangshalle direkt hinter dem großen Portal. Allerdings stehen sie ein wenig weiter dahinten.“ Sie deutete mit ihrer Hand auf die andere Seite des Innenhofs, und dort auf eine Mauer. „Hinter dieser Mauer.“

     „Carry? Du und Caitlin. Ihr geht zusammen auf die Mauer und kommt von oben in den Palast.“

     „Und was machst du?“, fragte Carry besorgt.

     „Ich warten hier auf die Ankunft von Iris und Jason.“

     „Was passiert, wenn sie dich entdecken?“, erkundigte sich Caitlin.

     „Dann werde ich mir schon was einfallen lassen“, murmelte Acia.

Carry sah die Mauer hinauf. Genug Vorsprünge und hervorstehende Steine boten Halt, um nicht hinunter zu fallen. „Hinter die Gondel!“, rief Caitlin leise. Sie versteckte sich auf der Seite der Gondel, die der Mauer des Hauptkomplexes zugewandt war. Kurze Zeit später sahen die drei, wie eine Fraktion Ilaner vom Fluss her kam und am großen Luftschiff vorbei marschierte. Kurze Zeit später verschwanden sie auf der anderen Seite des Innenhofes und hinter Mauer des anderen Außenflügels. Hörbar stieß Caitlin die Luft aus. „Dann viel Glück, Acia. Aber versteck dich irgendwo, in Ordnung?“ – „Mach ich“, erwiderte das Mädchen und deutete auf die Mauer. „Jetzt macht schon.“ Carry hatte derweil einen hervorstehenden Stein ergriffen und sich hoch gezogen. Sie schob schnell ihren Fuß in eine tiefgelegenere Fuge, damit sie nicht abrutschte. Caitlin kletterte neben dem rothaarigen Mädchen und gemeinsam versuchten sie, sich möglichst unauffällig an der Wand hinaufzuschieben. Acia sah ihnen kurz nach, ehe sie sich wieder den Geschehnissen auf dem Boden zuwandte und flink am Portal vorbeihuschte – auf die andere Seite des Innenhofes. Dort rannte sie zur Tür, durch die die anderen drei Kinder vor einigen Minuten im Innern des Palastes verschwunden waren. Acia dachte noch darüber nach, ob sie die Tür wirklich öffnen sollte, als sie den Ilaner sah, der die herumstehenden Gondeln und Luftschiffe kontrollierte.

     Ihr blieb keine Zeit.

     Sie drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür.

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