Geh nicht nur die glatten Straßen. Geh Wege, die noch niemand ging, damit Du Spuren hinterlässt und nicht nur Staub.
Antoine de Saint-Exupery
Die ledrigen Flügel raschelten durch das dämmrige Licht. Die Ragami krallten sich an den Felsen fest, die aus der Decke wuchsen. Dann warteten sie auf die Anweisungen, die Tammo ihnen geben würde, doch dieser Griff die Kanzlerin an. Der Anführer der Ragami musterte mit düsterem Blick seine Umgebung und diesen Polarfuchs, der ihnen den Auftrag gegeben hatte, hinter der Tür zu warten. Schließlich könnten sie endlich Rache nehmen, an dem, was Themma Tighhoor Gwenna angetan hatte. Der Anführerin der Ragami. „Was ist zu tun?“, fragte der neue Anführer den Polarfuchs mit tiefer und dunkler, der die Kanzlerin grimmig anfunkelte, da sein Angriff wieder abgelockt worden war.
Greift an, Dvôrak!
„Gewiss!“ Der Ragami gab seinen Kameraden einen Wink und stieß einen tiefen Laut aus, der beinahe das Trommelfell zerbersten ließ. „Greift an, ihr Todesengel. Ragami, unter Führung Dvôraks!“ Die Ragami flogen auf wie Fledermäuse und heulten durch das Mausoleum. „Setzt eure Fähigkeiten ein!“, schrie Acia gerade noch, da stürzten die Ragami auf die Kinder nieder, während sich Tammo mit der Kanzlerin schlug.
„Es reicht, Tammo!“, schrie Themma und wirbelte den Speer durch die Luft. Die Spitze des Speers aus Wasser streifte einige Ragami, die über dem Kopf der Kanzlerin flogen und bohrte sich durch die warmen Körper hindurch. Tot fielen die Getroffenen zu Boden.
Warum hast du mich nie getötet?, schrie Tammo zu ungezählten Mal der Kanzlerin entgegen. Ich will es wissen!
Die Kanzlerin feixte müde. „Ich konnte es nicht“, sagte sie leise und wehrte dabei Tammos Attacken ab, die immer heftiger wurden. Was um sie herum geschah, nahm die Kanzlerin nicht mehr wahr. Das Leben schien nur noch aus ihr und der Wahrheit zu bestehen, die sie Tammo so lange vorenthalten hatte. „Du warst eine so perfekte Schöpfung…“
… Und habe mich von dir gelöst. Nach langer Zeit des Dienstes. Und weißt du, warum ich das getan habe und Tildâr nun das Amt bekleidet?
„Nein!“, schrie Themma. Sie wirbelte den Speer herum, brachte noch einmal sechs Ragami um und fügte Tammo eine heftige Schnittwunde an der Vorderpfote zu.
Du hast mir Leid zugefügt. Mir alles vorenthalten. Und mich in die ausweglosesten Situationen, Kriege und Fehden geschickt. Und ich habe dir gehorcht… Aber dann war da etwas. Eine Regung in meinem Innern. Und ich kann dir nicht mehr dienen.
„Dann kannst du jetzt sterben“, sagte Themma kalt. „Leb wohl.“ Dann versenkte sie die Spitze des Speers in Tammos Körper und dieser starb selig, denn er wusste endlich die Wahrheit. Die Liebe in die eigene Schöpfung. Die Trauer um den Verlust des ehemaligen Ilaners verwandelte sich in Wut auf eben diesen, als Themma erblickte, was der Ilaner alles aufgestellt hatte. Ein Heer von Untoten mit Engelsflügeln und Haut, die wie Erde aussah. „Ihr Kreaturen der Hölle!“, schrie Themma laut gegen das Flügelschlagen und die Ragami ließen von den Controllern ab. „Ihr könnt nie gewinnen! Weil ihr schwach seid! Die einzige, die wirklich jemals an der Macht ist, kann nur leben! Und das bin ich!“ Themmas Wut übertrug sich auf den Stoß, den sie mit dem Stab in die Erde bohrte. Die Stalaktiten lösten sich und prasselten in kleine Steine gelöst auf die Ragami nieder. Doch die ließen sich nicht beeindrucken und flogen auf Themma zu. Umgehend warf sie den Stab weg, der sich daraufhin verflüssigte und das Wasser sickerte in die Erde, und die Energiekugel, die den Stab so lange am Leben gelassen hatte, schwebte zur Kanzlerin hinauf. Dann drückte Themma die Kugel mit einem Händeklatschen zusammen und ein Wall aus Erde baute sich vor ihr mit einer lauten Detonation auf. Die Ragami, die auf die Frau im purpurfarbenen Mantel zugerast kamen, krachten gegen die Mauer und starben.
Ein letztes Mal dachte Themma an Tammo, dann ließ sie die Hände fallen und die Mauer zerfiel zu Staub. Die Masse der erschlagenen Todesengel war beeindruckend. Fast dreiviertel der Ragami hatten den Weg zu Gwenna gefunden und ruhten nun im Reich der Toten. Die anderen hatten sich durch das Tor in die Unterwelt Circurs zurückgeflüchtet. Dvôrak war einer von ihnen. Das Tor stand offen.
Die Controller waren außer Atem.
„Wo sind die Arkana der Macht?“, kreischte Themma laut und deutete auf Acia.
„Hier“, sagte diese zitternd und hielt die drei Gegenstände hoch.
„Und was müssen wir damit machen?“, fragte Dillion.
Themmas Mund umspielte ein kaltes Lachen. Sie warf den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Heraus kamen Fledermäuse, die sich aus schwarzem Rauch formten und an der Decke mit höhnischem Gekreische ihr Leben aushauchten. Themmas Lachen erstarb schnell und sie richtete die Augen wieder auf die Controller. Dann zog sie eine Sanduhr aus dem Innern ihres Mantels hervor, der mit grauem Blut bespritzt war. Aber auch roter Lebenssaft klebte an dem teuren Stoff und hatte unschöne Flecken hinterlassen. „Wenn du deinen Bruder wiedersehen willst“, zischte Themma, die nun ihrer leidenden Rolle ein Ende gesetzt hatte, um zu zeigen, dass sie nicht diejenige war, für die sie sich im Mausoleum Locor Narcanas ausgegeben hatte. „Dann suche Locor Narcana! In der Unterwelt!“ Acia sah Themma entgeistert an. „Wie meinen Sie das?“
„Wie ich es gesagt habe. Das Tor ist schon offen. Dieser Nichtsnutz Tammo hat uns einige Arbeit abgenommen… Und jetzt los!“ Sie warf Acia die Sanduhr zu. Darin presste ein kleiner Körper seine Nase und Hände an die Glaswand, während Sand auf ihn herabrieselte. „Wenn der Sand deinen Bruder bedeckt“, setzte Themma kalt lächelnd an. „Dann wird er endgültig sterben!“ – „Das ist nicht wahr…“, flüsterte Acia und ließ die Sanduhr, die sie zur besseren Betrachtung in Gesichtsnähe gehalten hatte, wieder sinken. „Sie lügen!“, schrie das Mädchen.
„Nein“, kreischte Themma. „Du hast eine Stunde Zeit!“ Acia verengte ihre Augen zu Schlitzen und hob die Sanduhr an. „Das würde ich nicht machen“, flüsterte Carry Acia ins Ohr. „Lass und lieber Locor Narcana suchen gehen…“ – „Was weißt du schon“, zischte Acia wütend zurück. „Nun schau doch mal genau hin! Du solltest es doch am besten erkennen!“, rief Carry leise in das Ohr der Anführerin. „Eine Luftspiegelung…“, hauchte das Mädchen, behielt ihre Gesichtszüge aber bei. „Gut“, sagte Acia und weinte. Die Controller erkannten, dass Acia wohl nur mit der Kanzlerin spielen wollte, und schwiegen. „Aber das hier…“ Acia deutete auf die Sanduhr und warf sie in die Luft. „Brauche ich nicht dafür, Sie verlogene Schlange!“
Themma stockte der Atem. „Was fällt dir ein, mit mir so zu reden!“, schrie sie und schnippte mit den Fingern. Ein Tropfstein löste sich von der Decke und zerschellte neben Acia. Diese wandte sich ab. „Ich werde gehen und meine Freunde mitnehmen“, setzte sie an. „Aber die Arkana nehme ich mit!“ – „Nein!“, schrie Themma und stürzte auf die Controller zu. Doch die waren schon durch das Tor getreten und mit einem lauten Rattern schlossen sich die Torflügel und der Sarg senkte sich hinab. Themma Tighhoor war außer sich vor Wut. Doch dann besann sie sich eines anderen und dachte nach. Als sie meinte die richtigen Worte gefunden zu haben, murmelte sie etwas, dann erhob sich der Sarkophag und die Flügel des Tores öffneten sich. Aber die Controller waren aus Themmas Blickfeld verschwunden.