fabula vaporis – Kap. 31

Caitlins Ziel war die städtische Bibliothek, die auch als Schule genutzt wurde. „Nach was suchen wir eigentlich?“, fragte Jesse auf dem Weg dahin. Er und Acia folgten Caitlin durch die überfüllten stickigen Straßen Circurs. „Nach irgendeinem Hinweis über diesen Erfinder und die vier Arkana“, antwortete Acia. „Ich weiß nicht, ob wir irgendetwas finden.“ Sie hatten das große Gebäude mittlerweile erreicht und traten ein. „Guten Tag, Mrs Carvan. Ich suche ein Buch über den Erfinder Locor Narcana“, sagte Jesse und trat auf die Frau zu. Es war spät am Nachmittag und die Sonne durchflutete das Bibliotheksgebäude von innen mit warmem Licht. „Ein Buch über… Locor Narcana!?“, fragte Mrs Carvan ungläubig. „Ich glaube nicht, dass ich euch das zeigen darf.“

„Wenn Sie es nicht tun, suche ich selber danach. Ist ja kein Problem“, erwiderte Jesse und wollte sich gerade abwenden.

     „Ihr solltet euch davon fernhalten!“, murmelte die Bibliothekarin. „Themma wird unruhig…“

„Was hat das denn damit zu tun?“, fragte Acia. „Wie kommt die dazu, uns zu beschatten?“

     „Oh. Das weißt du ganz genau!“, rief Mrs Carvan leise. „Jeder in der Stadt weiß, dass die Kanzlerin schuld ist, dass du deinen Bruder verloren hast, Acia Merchant!“

     „Das reicht!“, rief Acia aufgebracht. „Sie werden uns jetzt sofort das Buch über den Erfinder Locor Narcana zeigen!“ Ihre Stimme nahm einen drohenden Unterton an.

     „Nein“, entgegnete Mrs Carvan kühl.

     „Kommt!“, rief Caitlin mit abwesender Stimme.

     „Nein!“, schrie Acia, und wurde von Mrs Carvan unterbrochen, als sie weiterreden wollte.

     „Das ist eine Bibliothek!“, schrie die Bibliotheksangestellte. „Das schreit man nicht rum!“

     „Das tun Sie gerade selber“, murmelte Jesse und zog Acia weg, aber die riss sich los und stürzte auf die Frau zu.

     „Wo ist das Buch?“, zischte das Mädchen.

     „Acia!“, rief Caitlin und zog Acia von Mrs Carvan weg. „Das tut uns sehr leid, Mrs Carvan.“ Die glotze nur unbeholfen von einem zum anderen.

     „Du hast es gewagt…“, murmelte sie.

„Was?“, fragte Acia, die sichtlich verstört war. So wollte sie eigentlich nicht erfahren, wo das Buch war. Da war wohl ihr Temperament mit ihr durchgegangen. „Es tut mir leid, Mrs Carvan!“, rief Acia und folgte Caitlin und Jesse die Treppe hinauf. „Das wird Konsequenzen habe, meine Lieben…“, zischte Mrs Carvan ihr hinterher, dann konzentrierte sie sich wieder auf das Programm am Computer und arbeitete weiter Bücher ein. „Was war denn los, Caitlin?“, fragte Acia genervt, da sie lieber Mrs Carvan etwas angetan hätte.

     „Ich habe es entdeckt!“, rief Caitlin zufrieden. „Das Buch. Im dritten Stock. Ganz hinten.“

     „Na und?“ Acia zuckte mit den Schultern. „Ich hätte Mrs Carvan trotzdem erwürgen können!“

„Aber doch nicht jetzt!“, stöhnte Jesse und trat in den Saal B im dritten Stock ein. Caitlin ging ganz nach hinten durch, zu einem eher unscheinbaren Regal. Dort griff sie zielsicher ein verstaubtes Buch, das ziemlich weit unten stand. „Da ist es“, sagte das Mädchen mit dem Buch nicht ohne Stolz und blies den Staub vom Buchdeckel herunter. Acia nahm das Buch aus Caitlins Hand und schob es unter ihre Bluse. Dann kehrte sie zum Ausgang zurück und verließ Stock drei. Die anderen beiden Kinder folgten ihr. Acia raste die Treppe hinunter und rauschte am Tresen von Mrs Carvan vorbei. Mit einem letzten vernichtenden Blick, der der Bibliothekarin gelten sollte, verließ Acia die Bibliothek und als sie eine ruhige Bank gefunden hatten, ließen sich Jesse und Caitlin neben Acia darauf fallen. Dann begann die Anführerin der Controller das Buch laut vorzulesen.

Für meine über alles geliebte Nichte Jeffi

Dieser eine Satz stand auf der allerersten Seite. Das Buch von Locor Narcana konnte noch nicht veröffentlicht sein, da beim genaueren Hinsehen die Tinte, mit der geschrieben worden war, noch erkennbar und ein wenig ausgebleicht war. Auch sonst hatte keiner der drei Kinder jemals ein solches Exemplar geschweige denn einen Abdruck gesehen. Vielleicht existierte aber doch noch so ein Buch von Locor Narcana. Keiner war sich sicher; dann blätterte Acia eine Seite um und las weiter.

Ich schreibe, weil ich es veröffentlichen will. Alle müssen wissen, dass die Kanzlerin ihre Macht niemals hergeben wird, nein, ich habe ihr sogar geholfen, die Ilaner und das Virus zu erschaffen.

Und das, meine Leser, tut mir sehr leid. Ich werde es in Zukunft besser machen, habe ich beschlossen. Schaut euch aufmerksam um. Vier Arkana, die die Kanzlerin stürzen werden. Und eines Tages wird es soweit sein, das Themma Tighhoor wieder untergehen wird und ihr sie stürzen werdet.

Sucht dazu die vier von mir erschaffenen Gegenstände:

  • Das Arkanum des Feuers                  In einer Gondel. Fragt Crash.
  • Das Arkanum des Wassers                In der Kanalisation von Circur.
    Folgt dazu meinen Anweisungen auf den Tafeln in der Kanalisation.
  • Das Arkanum der Luft                       Im Südlichen Eisgebirge. Fragt Tammo.
  • Das Arkanum Erde                            Im Mausoleum der Ragami. Frage Gwenna.

Und dann wird das Ende der Kanzlerin näher kommen.

Die Seite war vollgeschrieben und Acia blätterte erneut um, ehe sie weiterlas.

Sucht die Arkana in der Reihenfolge, denn nur dann werden sie den Weg zu nächsten Arkanum zeigen.
Und wenn ihr alle beisammen haben solltet, oh dann, meine lieben Verbündeten, dann sucht mich!

Hier brachen die Aufzeichnungen im Tagebuch plötzlich ab. Es folgten nur noch leere Seiten, die mit Linien bedruckt waren, auf denen man schreiben konnte. „Sehr aufschlussreich“, folgerte Caitlin und nahm Acia das Buch aus der Hand, die es fassungslos hatte sinken lassen und nun einen unbestimmten Punkt in der Ferne visierte; so, als ob sie nachdenken wolle. Caitlin steckte das Buch ein und legte Acia eine Hand auf die Schulter. „Und was machen wir jetzt?“, fragte Caitlin und stand auf. Acia sah mechanisch zu der Gestalt auf. „Wir gehen nach Hause“, flüsterte sie. „Und denken uns einen Plan aus. Einen guten. Und dafür brauchen wir ihn.“ Sie betonte das letzte Wort besonders. „Kommt!“
„Heißt das, dass wir einen Umweg machen müssen?“ Jesse stöhnte, aber da Acia schon losgeeilt war, folgten die beiden Kinder ihrer Anführerin, die die Notizen des Mannes wohl arg mitgenommen haben mussten. „Kommt!“, rief Acia dabei immer und drehte sich um, um zu prüfen, ob die beiden anderen Kinder ihr noch folgten. Irgendwann blieb sie keuchend stehen und betrachtete das große Haus, vor dem sie nun gestoppt hatte. Jason schrieb alle Monologe, die das Arkanum des Feuers in den finsteren staubigen Raum und das Arkanum des Wassers in der Kanalisation geführt hatten noch einmal auf, soweit er sich erinnern konnte.

Kannst du etwas mit mir anfangen? Wo bin ich? Hilf mir!,

Wo bin ichWo bin ich? Wer bin ich? Bist du es Locor? Hilf mir… Ich muss sie finden. Kannst du mir helfen? Bitte!

Locor? Hast du mich gefragt, wer ich bin? Oh… Locor. Ich bin das Feuer. Und suche das Wasser… Ich danke dir so, Locor. Du hast mich erlöst.

Alter Ego… In der Kanalisation… vt, x, a, Pfeil nach rechts →… Findest du ihn? Danke…,

Wer nicht will nach unten fallen, schau‘ sich um und solle staunen

Das hatte das Arkanum des Wassers gesagt. Aber die Bedeutung erschloss sich Jason nicht. Solch seltsame Monologe hatte er noch nie entschlüsseln müssen, geschweige denn sich zu überlegen, wie man ein Programm schreiben könnte, dass das für ihn übernahm. Bevor Jason weiterschrieb, klappte er den Laptop auf und schaltete ihn an. Gleich darauf wurde er mit einem blinkenden roten Licht gestraft und schob geräuschvoll den Stuhl nach hinten. Die Fabrikhalle verstärkte den Ton noch einmal und Jason hastete schnell heraus, bevor der Computer ganz abstürzen würde. Schon bald hatte er das Aufladekabel gefunden und kam zurück in die Halle, wo er den Tisch mit den Notizen stehen hatte. Er schloss das eine Ende an den Laptop an, das andere Ende an die Steckdose und der Computer fuhr nun zufrieden hoch. Währenddessen schrieb Jason weiter das auf, an das er sich noch erinnern konnte. An die Sätze des Arkanums des Wassers, die sowohl die Controller als auch Jones gehört hatten.

Wer bin ich?

Feuer… Und du? Wasser… Locor? Bis du da? Ich brauche dich… Hilf mir… Ich bin da! Aber wo sind die beiden… Oh, mein Bruder, Schwester… Wo seid ihr? Hier! Hier bin ich… Wo?… Hier! Siehst du mich nicht… Oh, Wasser… Feuer! Wo sind Luft, Erde; Feuer! Wo bist du?… Hier bin ich… Wasser, ich habe dich vermisst…

Wo bin ich?…

 Hier! Am Ort der Finsternis… Kanäle? Dunkelheit… Ja… Locor? Wo bin ich?… Wasser, fragt Wasser… Warum wir?… Luft, Erde? Wo seid ihr? Ich brauche euch; will etwas fragen… Feuer! Brennst du noch… Fließt du noch?… Wie hab ich dich vermisst!… Ich dich… Hilf mir!… Du mir!… Nein… Ich kann nicht!… Was verlangst du von mir… Ich brauche deine Hilfe… Bitte…

„Ich denke, das war alles, was die gesagt haben…“ Jason nickte zufrieden und wandte sich den nun hochgefahrenen Computer zu. Die Notizen legte er neben sich.

„Einmal das Development Studio und, nein, das brauche ich eigentlich nicht…“, murmelte der Junge munter vor sich her, während er die genannten Programme mit je einem Doppelklick öffnete.

     „Dann noch das Algorithmusprogramm…“, murmelte er weiter und öffnete auch dieses.

„Schön.“ Jason nickte zufrieden und setzte den Fokus auf das Algorithmusprogramm. „Was soll er machen, wenn ich jetzt die Sätze eingebe?“, fragte sich Jason und stützte sein Kinn mit gefalteten Händen. Dann führte er eine der beiden Hände zur Tastatur und begann einhändig zu tippen, während die andere Hand gedankenverloren nach einem Stift griff und damit herum spielte. „Zuerst sollst du die häufigsten Sätze analysieren, dann… mal sehen…“, murmelte er zu sich selber. „Gehe alle Kombinationen von Satzfetzen durch, bis du ein oder mehrere sinnvolle Sätze bekommst. Gebe diese aus. Wiederholung. Verzweigung…“

Nach ein paar Minuten war das Programm fertig. Jason speicherte das soeben erstellte Dokument im Format des Programmes und konvertierte es dann in ein *.cpp-Format um. Nachdem der Computer gerechnet hatte, hatte das Programm Jasons Idee in vollständigen Quelltext umgewandelt und Jason wechselte den Fokus auf das Development Studio, in dem er die Datei im *.cpp-Format öffnete und kompilierte. Dann gab er die Sätze exakt so ein, wie er sie auf dem Papier neben sich stehen hatte und bestätigte mit Return. „Mal sehen…“, brummte der Junge und starrte auf den Bildschirm. Zuerst wurde er komplett schwarz, dann hoben sich einige blaue Linien und schließlich grüne Wörter hervor. Jason konnte sehen, wie der Computer Sätze miteinander verband und dann hinschrieb. In Sekundenschnelle ratterten tausende und abertausende Sätze das Programm hindurch und nach etwa einer Minute spuckte es eine Information aus. Ein neues Fenster öffnete sich und darin erschien der Text, den der Computer mit Sinn gefüllt hatte und den Jason dann auch sofort durchlas und ausdruckte.

Häufigste Sätze (gefunden: 3)           Wo bin ich?

                                                           Wer bin ich?

                                                           Bin/bist/sein/ist

Sinnvolle Kombinationen (gefunden: alle möglichen)

Unsinnige Sätze/Satzfetzen ohne Zusammenhang gelöscht um 16:12 Uhr von Jason C.

Kannst du etwas mit mir anfangen?

Bist du es Locor? Ich muss sie finden. Kannst du mir helfen?

Hast du mich gefragt, wer ich bin? Oh… Locor. Ich bin das Feuer. Und suche das Wasser… Ich danke dir so, Locor. Du hast mich erlöst.

In der Kanalisation. Findest du ihn? Danke

Wer nicht will nach unten fallen, schau‘ sich um und solle staunen

Bis du da? Wo sind Luft, Erde; Feuer! Wo bist du?… Hier bin ich… Wasser, ich habe dich vermisst…

Hier! Am Ort der Finsternis. Ich brauche euch; will etwas fragen… Wie hab ich dich vermisst!… Was verlangst du von mir… Ich brauche deine Hilfe.

„Das ergibt noch weniger Sinn, als vorher“, seufzte Jason und schloss das Programm wieder. „Dann werde ich Acia wohl enttäuschen müssen.“ Frustriert schloss der Junge die offenen Programme und fuhr den Computer wieder herunter. Dann schob er den Stuhl zurück und legte die Beine auf den Tisch. Er zog den Ausdruck zu sich heran und betrachtete ihn noch einmal. Erst ließ er ihn wieder sinken und schloss müde die Augen. Er hatte definitiv zu wenig geschlafen.

     Und dann hatte er eine Idee.

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