fabula vaporis – Kap. 27

 Ein Gipfel gehört dir erst, wenn du wieder unten bist –  denn vorher gehörst du ihm.

Hans Kammerlander

Der eisige Wind pfiff um ihr Haupt. Der purpurfarbene Mantel war mit kleinen weißen Schneeflocken bedeckt, wovon einige beim Kontakt mit dem warmen Mantel schmolzen und einen kleinen dunklen Fleck zurückließen.
Der Kapitän hatte das Luftschiff an einem Eisberg zum Ankern gebracht und eine Ankerkette tief in das Eis geschlagen. Es hatte kleine Splitter geregnet, die polternd in die Tiefe gestürzt waren.
Themma stand einige Meter oberhalb des Luftschiffes auf einem kleinen Plateau und sah hinab. Dann drehte sie sich um und starrte den Eisberg hinauf. Hier sollte sich das dritte Arkanum befinden? Im Südlichen Eisgebirge?
Es war fraglich, ob Themma den Ort finden würde, an dem Locor Narcana das Arkanum der Luft versteckt hatte, aber unmöglich war es nicht, zumal Themma ja über Fähigkeiten verfügte, die kein anderer besaß.

     „Tildâr?“, fragte Themma.

     „Kanzlerin“, erwiderte der Angesprochene untergeben. Er stand neben ihr und wartete auf Anweisungen.

     „Gehen Sie ins Luftschiff zurück und bereiten Sie alles auf die Rückreise vor. Und dann suchen Sie die Kinder…“

     „Wie Ihr wünscht.“ Tildâr wandte sich ab und ging einige Schritte vor. Dann drehte er sich um, nahm Anlauf und lief gekonnt und schnell über die mittlerweile von Raureif und Eis überzogene Ankerkette. Er sah aus wie ein schwarzer Blitz und nickte der Kanzlerin zu, als er durch die Tür im Innern des Luftschiffes verschwand und die Befehle in die Tat umsetzte. Themma sah weiterhin den Berg hinauf und lächelte kalt. Sie würde Locor überlisten, nach allen Regeln der Kunst. Dann stampfte sie durch den hohen Schnee und begann ihre Suche.

Wer bin ich?, fragte eine leise klare Stimme. Eine Stimme antwortete, aber man konnte deutlich hören, dass die Stimme im Monolog sprach. Zwar fragte sie sich etwas, antwortete aber gleich darauf selber. Feuer… Und du? Wasser… Locor? Bis du da? Ich brauche dich… Hilf mir… Ich bin da! Aber wo sind die beiden… Oh, mein Bruder, Schwester… Wo seid ihr? Hier! Hier bin ich… Wo?… Hier! Siehst du mich nicht… Oh, Wasser… Feuer! Wo sind Luft, Erde; Feuer! Wo bist du?… Hier bin ich… Wasser, ich habe dich vermisst… Wo bin ich?…, fragte die Stimme erneut, brach aber nicht ab. Hier! Am Ort der Finsternis… Kanäle? Dunkelheit… Ja… Locor? Wo bin ich?… Wasser, fragt Wasser… Warum wir?… Luft, Erde? Wo seid ihr? Ich brauche euch; will etwas fragen… Feuer! Brennst du noch… Fließt du noch?… Wie hab ich dich vermisst!… Ich dich… Hilf mir!… Du mir!… Nein… Ich kann nicht!… Was verlangst du von mir… Ich brauche deine Hilfe… Bitte, flehte die Stimme und erstarb.
Jones war genauso verwirrt, wie die anderen Controller auch, fasste sicher aber schneller und machte rasche Schritte auf den pulsierenden Lichtschein zu, der aus einem Raum zu kommen schien, der noch in einiger Entfernung lag. Dann rannte der Mann los. Und die Controller folgten ihm.

Die Bergspitze wollte nicht näher kommen; trotzdem erklomm Themma Tighhoor den Berg weiter und irgendwann tat sich vor ihr eine Ebene auf. Mit Hilfe ihrer ungewöhnlichen Fähigkeiten hatte sie schon einen Großteil der Strecke hinter sich gebracht. Nun stand sie an der Kante zum Abgrund, vor ihr die große schnee- und eisbedeckte Ebene. Unter ihr der Ankerplatz des Luftschiffes, das aus dieser Höhe nicht mehr erkennbar war. Themma streckte den rechten Arm aus und kalter Wind wirbelte darum. Aus der Handinnenfläche gleißte eine kleine blaue Flamme auf, die rasch wuchs und bald mehr lang als breit war. Dann löste sie sich von der Hand und legte sich um den Körper der Kanzlerin. Diese rang nach Atem, als der von ihr gewirkte Zauber vollendet war. In dieser Höhe war das Atmen schwer und die dünne Luft verbrannte die Lungen, sodass Themma einen Schutzmantel gewirkt hatte, der die Luft vor ihrem Atemwegen konzentrierte, damit sie, die Kanzlerin, besser atmen konnte. Das vorherige Unwohlsein hatte sich mit dem Zauber verflüchtigt und Themma sah sich auf der weißen, hellen Ebene um.

Dann tat sie den ersten Schritt und marschierte weiter. Was hatte ihr Vater immer gesagt? Der erste Schritt kostet doch am meisten Mut. Und dann? Gehen deine Füße schneller, als dir lieb ist!
Damals hatte sie noch nicht glauben wollen, einmal eine mächtige Person zu sein und das Erbe ihres Vaters anzutreten. Nur dann hatte einer aus dem Volk ihn umgebracht. Und die Liebe und Fürsorge zur Bevölkerung war in Hass und Wut umgeschlagen – und hatte einen Menschen erschaffen, der nichts als Rache im Sinn hatte.
Themma blinzelte, als eine Wolke aus weißem Schneestaub auf sie zukam und ihr Gesicht mit einem nassen Film benetzte. Die Kälte, die darauf folgte, breitete sich schnell aus und Themma wirkte einen weiteren Elementzauber, der eine innere Wärme hervorrief.
Sie sah nach hinten. Die Kante verschmolz mit der Umgebung und Themma hatte ihre Mühe, den Rand zu erkennen. Das konnte tödlich ausgehen, wenn man ihn übersah, dachte sie und sah wieder nach vorn.
Was war das? Eine weiße Gestalt huschte durch den Schnee. Themma bückte sich und griff sich eine Hand voll Schnee. Diesen drückte sie mit einer Hand zurecht und ließ ihn dann wachsen. Nach unten hin wurde er schlanker und fest. In der Handinnenfläche wuchs ein Griff, und als der Stab auch nach oben gewachsen war, formte sich eine Kugel, die reich verziert war und eine blau pulsierende Flüssigkeit intus hatte.
Das war die einzige Waffe, die Themma nun besaß. Einen Stab aus Schnee mit einem Stabilisierungszauber. Sie ging entschlossen weiter und stiefelte durch die mittlerweile höhere Schneedecke.

Da! War das schon wieder die Gestalt gewesen? Themma hob den Stab an und rammte ihn in den Boden. Wie in einem Spinnennetz verstreute er auf dem Boden blaue Fäden, die den Schnee entlangflossen und kleine Rinnsale bildeten, welche in alle Richtungen flossen. Während einige nach ein paar Metern in bizarr geformte Eissplitter zersprangen, flossen andere weiter. Aber auch diese verfestigten sich nach weiteren fünf Metern und zersprangen. Nur ein einziger Strahl floss noch weiter und kurze Zeit später vernahm Themma das Jaulen eines Hundes, aus der Richtung, in der der Strahl geflossen war.
Sie stiefelte weiter, bis sie an eine Düne aus weißem glitzerndem Schnee kam, die sie hinaufkletterte. Dahinter war der blaue Strahl jedenfalls hingeflossen.
Eine weiße Gestalt rang nach Atem, während sie von einem dünnen blauen Rinnsal eingesponnen wurde. Hellblaue kleine Funken stoben immer dann auf, wenn die Gestalt eine Verbindung durchtrennt hatte. Doch schon war eine neue Verknüpfung da, die die kaputte reparierte. Wenn man so wollte, hatte derjenige, der da von den blauen Fäden eingesponnen wurde schon verloren.
Tammo, der einsame Schneefuchs, dachte die Kanzlerin, als sie die Gestalt dort liegen sah und mit einer Geste ihrerseits sprangen die blauen Fesseln von dem Geschöpf ab und verloren sich im Schnee.

     „Tammo“, sagte Themma. „Was führt dich hierher?“

Der Schneefuchs stellte sich auf seine vier Pfoten und sah die Kanzlerin erwartungsvoll an. Doch dann bemerkte er, dass die Frau vor ihm sein Spiel durchschaut hatte und erhob sich auf seine zwei Hinterläufe. Themma, rief der Fuchs mit freudiger Stimme und diese war nur im Kopf der Kanzlerin zu vernehmen. Was tust du hier?
„Warum folgst du mir?“, beantwortete Themma Tammos Erkundigung mit einer Gegenfrage.

Stell dir einfach vor, da kommt jemand in dein Revier und spaziert da herum! Dann würdest du bestimmt auch wissen wollen, wer das ist. Aber gleich einen Suchzauber losschicken… das muss nicht sein. Sieh, was er angerichtet hat! Tammo deutete auf viele braune Striemen, die die blauen Rinnsale in sein Fell gebrannt hatten. Das ist höchstens in einem Monat wieder in Ordnung!
„Tammo“, unterbrach Themma den sich in Rage geredeten Schneefuchs. „Ich suche eines der vier Arkana… Kannst du mir helfen?“

Immer noch so machtbesessen wie früher?, antwortete Tammo mit einer Frage und seine Gestalt veränderte sich. Er wurde fülliger und das Fell ging zurück. Langsam nahm der Schneefuchs humane Züge an und bald stand ein etwa fünfzigjähriger Mann vor Themma, der ganz in weiß gehüllt war. Nur ein paar beinahe unsichtbare braune Streifen durchzogen den Mantel, den er anhatte. „Du weißt, was du mir schuldig bist?“, fragte Tammo und sah Themma erwartungsvoll an.

„Was kann ich denn dafür, dass du dich in meinen Laboren aufhältst und dann zu einem Fuchs wirst? Du selbst hast dich dann in diese Einsamkeit verbannt… Und falls es dich interessiert, meine Versuche sind auch nicht spurlos an mir vorbeigegangen…“
„Das habe ich bereits zu spüren bekommen… Kannst mit den Elementen umgehen, was? Wer ist eigentlich mein Nachfolger geworden?“
„Tildâr. Es wäre mir aber lieber gewesen, wenn du geblieben wärest. Aber wenn Tammo nicht will, dann kann selbst ich ihn nicht davon abhalten.“
„Und warum nicht? Du hättest mich jederzeit umbringen können.“
„Eben nicht“, murmelte Themma und wechselte das Thema, da sie Tammo keine Erklärung geben wollte, warum sie ihn nicht töten konnte. „Kannst du mir nun helfen?“

     „Natürlich“, sagte Tammo. Und dann schwieg er.

     „Ich werde dir dafür nichts geben“, zischte Themma ungeduldig.

     „Das habe ich auch nicht verlangt, oder? Also, was suchst du?“

     „Das Arkanum der Luft.“

     „Huuiii.“ Tammo sog hörbar die Luft ein. „Ganz sicher? Hast du auch schon jemanden gefunden, der dir die Arkana zusammenbaut? Ich kann das nicht, falls du das jetzt meintest!“

     „Hab ich das gesagt? Nein. Also, wo finde ich es.“

     „Warum willst du es haben?“

     „Das geht dich nichts an…!“, rief Themma, beinahe so laut, dass sich eine Lawine gelöst hätte, aber dann besann sie sich.

     „Ich habe dir immer gesagt, dass deine Regierungszeit ein Ende hat. Aber, du wolltest ja nicht hören… Willst du jetzt mit einem Gegenstand verhindern, dass du gestürzt wirst? Ist es das?“

     „Tammo“, flüsterte Themma mit einem drohenden Unterton.

„Na gut“, erwiderte Tammo zögernd. „Dann will ich mal nicht weiter nachhaken.“ Sein Mantel passte sich seiner Körperform an und sein Gesicht wurde länger. Dann stand er schließlich wieder als Schneefuchs vor Themma und ließ sich auf die Vorderläufe fallen. Mir nach, sagte er mit einer Stimme, die in Themmas Kopf hallte. Da er als Fuchs nicht sprechen konnte, musste er sich zwangsläufig der Telepathie bedienen.
Themma folgte dem Fuchs durch den Schnee. Sie kamen an mehreren Schneedünen und vereisten Flächen vorbei. Bald schon hatte die Kanzlerin den Überblick verloren, über den Weg, den sie schon gegangen waren; so riesig war die Eisfläche. Wo bringst du mich hin, Tammo, fragte Themma sich, folgte dem Schneefuchs geduldig durch den Schnee.
In der Ferne glimmerten die Silhouetten von Bergen am Himmel. War das eine Täuschung, oder standen dort tatsächlich Berge? Ja, einer war so hoch, dass er die Spitze bilden könnte, nach der sich Themma die ganze Zeit orientiert hatte.

     „Sind wie bald da?“, fragte Themma laut und Tammo antwortete ihr leise.

     Sicher. Es dauert nicht mehr lange.

Zum Glück, dachte Themma, denn sonst würde ich dir den Hals umdrehen. Tammo war immerhin so diskret, die Gedanken derer, die ihn umgaben, nicht mitzuhören. Denn sonst hätte er wohl mitbekommen, was für feine Mordüberlegungen Themma anstellte. Und die betrafen ausschließlich den Polarfuchs.
Wir sind angekommen, sagte Tammo und erhob sich auf die Hinterläufe. Dann verwandelte er sich in einen Menschen zurück, der sich in diesen weißen Mantel gekleidet hatte.
„Ich kann nichts erkennen“, murmelte die Kanzlerin zutiefst unzufrieden und strafte Tammo mit einem bösen Blick. Da vorn, siehst du den dunklen Fleck in der Eiswand des Berges?, fragte der ehemalige oberste Ilaner, entschuldigte sich sogleich und fuhr mit normaler Stimme fort, da er wieder sprechen konnte. „Näher will ich nicht an die Eisberge“, murmelte er. „Du musst in diese Höhle. Da ich Locor Narcana nur mal einen Weg zu einer Höhle gezeigt habe, kann ich dir leider nicht sagen, wie es darin aussieht.“

     „Willst du mitkommen?“, fragte Themma mit einer Spur Hoffnung in der Stimme.

„Nein“, erwiderte Tammo bestimmt. „An einen solchen Ort will ich nicht.“ Während er das sagte, verwandelte er sich in den Fuchs zurück und verschwand; nicht aber, ohne der Kanzlerin einen verabschiedenden Laut hinterher zu bellen. Dann verschluckte ihn die Schneeebene und Themma konnte ihn nicht mehr sehen.
Die Frau im roten Mantel stiefelte durch die hier an den Eisbergen nicht ganz so hochgelegene Schneedecke auf eben diese Berge zu. Sie dachte dabei an Tammo, den ehemaligen Ilaner, und Tildâr, der jetzt das Amt Tammos bekleidete.
Die Kanzlerin war am Höhleneingang angekommen und sah hinein in die tiefe Dunkelheit, die ihr entgegenströmte. „Ja“, murmelte sie. „Hier muss es sein.“ Sie nahm den Stock aus Schnee in ihre Hände, zerbrach ihn und warf ihn von sich. Als er den Schnee berührte, wurde er wieder eins mit ihm und zerfiel in weißen nassen Staub.

     Und dann nahm Themma allen Mut zusammen und tat den ersten Schritt.

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