fabula vaporis – Kap. 24

Das Mädchen schlug die Augen auf und erhob sich stöhnend. Die Umgebung kam ihm vertraut vor. Vor ihr das große Portal. Neben ihr, in einer V-Formation liegend, die anderen sechs Controller. Carry bemerkte, dass sie ihre rechte Hand zu einer Faust geballt hatte. Irgendetwas brannte darin unentwegt, sodass Carry die Hand öffnete. Das Zahnrad lag darin und verströmte schwaches Licht. Die kleinen Spitzen am Rand des Rades hatten Carry in die Hand geschnitten und kleine Löcher gestanzt, die aber nicht so tief waren, dass Blut aus ihnen quoll.

Kannst du etwas mit mir anfangen? Wo bin ich? Hilf mir!, wisperte eine leise klare Stimme durch den Kopf. Acia schlug die Augen auf und schrie einmal laut. „W… Was war das denn?“, fragte sie ängstlich, denn sie hatte die Stimme auch in ihrem Kopf gehört. „Eine Stimme“, sagte Lionel und erhob sich. Dann klopfte er den Staub von seiner Kleidung und gesellte sich zu Acia und Carry, die sich das Zahnrad in der Hand des zuletzt genannten Mädchens ansahen. „Es sieht wunderschön aus…“, sagte Acia leise, obwohl das kleine Zahnrad eher schlicht gehalten war. Von beiden Seiten hatte der Verschleiß schon zugesetzt. Kleine Löcher für Schrauben waren hineingebohrt worden und der Rost hatte sich über das Rad ausgebreitet. Im Dunkel glänzte das Oxid in mattem blauem Licht.

Auch die anderen fünf Controller hatten sich um Carry, Acia und Lionel versammelt und starrten das erste Arkanum an. Wo bin ich?, wisperte die Stimme wieder. Sie war zwar leise und hoch, gehörte aber unfehlbar einem Mann. Wo bin ich? Wer bin ich? Bist du es Locor? Hilf mir… Ich muss sie finden. Kannst du mir helfen? Bitte!, flehte die Stimme. „Was ist das?“, fragte Jesse. „Ein Zahnrad“, erwiderte Caitlin mit gedehnter Stimme. „Sieht man doch.“
„Das meine ich doch gar nicht. Ich weiß selber, dass das ein Zahnrad ist“, sagte Jesse trotzig. „Ich will wissen, was das für eine Stimme ist, die da um uns herum geistert.“

Locor? Hast du mich gefragt, wer ich bin? Oh… Locor. Ich bin das Feuer. Und suche das Wasser… Ich danke dir so, Locor. Du hast mich erlöst. Alter Ego… In der Kanalisation… vt, x, a, Pfeil nach rechts →… Findest du ihn? Danke…, hauchte die Stimme, dann erstarb sie. „Jason“, rief Acia schnell. „Kannst du das mal abspeichern? vt, x, a, und Pfeil nach rechts? Ich denke, das werden wir sicher noch brauchen.“ – „Schon geschehen, Acia“, murmelte Jason und tippte den letzten Buchstaben in den Editor ein, den er geöffnet hatte. „Ich hätte da noch zwei Fragen“, war Caitlin ein. „Die da wären?“, fragte Acia. Carry hatte das Zahnrad in ihre Hemdtasche gesteckt. Nun drang der Schein durch den Stoff und ließ Carrys Hemdtasche gespenstisch glühen. „Erstens: Wie kommen wir wieder hier weg? Und zweitens: Was sollen wir als nächstes tun?“, brachte Caitlin die Fragen hervor. Allerdings hatte sich diese beiden Fragen schon jeder durch den Kopf gehen lassen, weshalb keiner wirklich überrascht war, nachdem Caitlin geendet hatte. „Ich würde vorschlagen“, hob die Anführerin an. „Wir gehen jetzt mal zum Anlegeplatz der Gondel zurück und dann sehen wir weiter.“ – „Das ist ja hochinteressant“, murmelte eine männliche Stimme aus der Finsternis, jedoch so leise, dass niemand der acht Kinder Jones hörte.

Wie er es geschafft hatte, von der Plattform aus nach oben zu gelangen, war denkbar einfach gewesen. Jones hatte ein Bungeeseil dabei gehabt, das er an einem Sockel festgeknüpft hatte, der auf der Plattform gestanden hatte. Was auf dem Sockel mal befestigt gewesen war, interessierte Jones nicht, aber er konnte sich gut vorstellen, dass es mal ein Abbild der Kanzlerin gewesen war. Jones war in die Tiefe gesprungen und hatte sich am Boden von dem Seil getrennt. Dann war er zu Crash marschiert, der völlig verwirrt in einer Ecke des großen Balkons gesessen hatte und irgendetwas von acht Kindern faselte. Dann hatte Jones die Nummer 1254 eingetippt und auf die Gondel gewartet. Und jetzt war er hier. Und die Kinder hatten ihm denkbar viel Arbeit abgenommen. Themma würde stolz sein.

Statt der Gondel, die die acht Kinder zu dem Portal gebracht hatte, war nur ein leerer Ankerplatz vorzufinden. Rechts von den Kindern türmte sich eine meterhohe Säule in den Himmel und versperrte einen kleinen Teil der Sicht auf das nächtliche Circur. Sonst sah man von hier oben so ziemlich alles, was leuchtete. Von dem Kupfer reflektiert, sah die Stadt im Dunkel gespenstisch aus – aber es ging auch eine Schönheit von dieser Stadt aus, die die Kinder noch nie zuvor gesehen hatten – und jeder wäre dann gerne ein Bürger geworden. Was außerhalb der Äußersten Grenze war, wussten nur die Fahrenden Händler, die etwa alle zwei Jahre nach Circur kamen. Aber erzählen durften sie nichts; denn das war bei Todesstrafe verboten. Und wenn man tot war konnte man kein Geld mehr verdienen. Aber eben dies wollten die Händler in ihrer Gier am meisten besitzen. Zu der Linken der Kinder war nichts. Nur eine erloschene Lampe, die sich von den golden schimmernden Konturen des reflektierten Lichtes der Stadt abhob.

Wer nicht will nach unten fallen, schau‘ sich um und solle staunen, zitierte die leise Stimme aus einem altbekannten Gedicht, das von den Foxen stammte. Diese Spezies lebte im Himmel Circurs und auf den höchsten Dächern. „Was soll denn das heißen?“, fragte Dillion souverän. „Ich denke, wenn wir nicht nach oben wollten, sollten wir uns umschauen und staunen“, murmelte Josh, der schon wieder ein Rätsel hinter dem Zitat vermutete. Er trat vor und sah sich den hohen Megalithen an, den die acht Kinder bei ihrer Ankunft nicht einmal bemerkt hatten. Während Josh grübelte, riss Lionel die Augen weit auf. „Fallen wir?“, fragte er mit leiser Stimme. „Oder warum kommt uns Circur immer näher?“

Jetzt sahen auch die anderen, dass die Lichter immer heller wurden – aber vor allem immer größer. Erst nach ein paar Minuten des Schweigens, brachen Jason und Caitlin, die nun wieder ihre Karte vor Augen hatte, eben dieses und trugen beide ihre Feststellungen vor. „Der Megalith neben uns“, begann Caitlin. „Das ist… Wie soll ich sagen. Eine Art Fahrstuhl. Wir befinden uns auf der Plattform und diese Säule ist sozusagen unsere Stütze…“ Jason fuhr fort, während er auf den Bildschirm des Computers starrte. „… Die Plattform, auf der wir stehen, bewegt sich an der Säule nach unten und wir kommen unbeschadet dem Boden immer näher.“ Dillion wandte sich um und ging die Plattform ab. Nur ein Bruchteil des Weges, an dessen Ende das Portal stand, hatte sich verselbstständigt und glitt nun an der Säule nach unten hin gen Circur. Das einzige, was Dillion wohl als einziger vernahm, war ein leiser Schrei. Er war so leise, dass man ihn auch für das Kreischen einer Fledermaus aus mehreren dutzenden Metern Entfernung hätte halten können. Aber der Junge wusste genau, dass es ein Schrei gewesen war. Diesen Schrei hatte Jones ausgestoßen. Er stand an der Kante des Weges und starrte mit hasserfülltem Blick in die tintenschwarze Dunkelheit.

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