fabula vaporis – Kap. 16

Acia hatte darauf bestanden, dass Carry, Jesse und Josh und auch Lionel, Askar, Giada und Caitlin mitkamen, sonst niemand, da es zu viel Aufsehen erregt hätte. Es war bereits dunkel, als die sorgsame Planung von Caitlin und Giada ihren Lauf nahm. Jones war geflüchtet – wohin, war unbekannt, und störte Acia gewaltig. Immerhin konnte sie nur die vierte Farbe sehen; im Gegensatz zu manch anderem, der schon bessere und vor allem körperliche Eigenschaften durch das Crossing Over-Phänomen erhalten hatte. Gut, es war schön, dass man zwei gleichfarbige Tücher voneinander unterscheiden konnte; aber wirklich sinnvoll nicht. Und da beneidete sie Lionel und Askar, die weit springen konnten – und natürlich die drei Neuen. Carry, Jesse und Josh hatten viel lukrativere Gaben, als sie. Aber davon durfte sie sich nicht einschüchtern lassen. Immerhin hatte sie die meiste Autorität, und alle standen unter ihrem Kommando.

Die Laternen unter den Brücken, die den Kanal überspannten, glühten unheilvoll, als die Kanuten mit ihren Booten darunter hinweg glitten. Plätschernde Geräusche kamen aus dem Dunkel, dass nur in unregelmäßigen Abständen von den Laternenlichtern durchbrochen wurde. Die Gruppe ruderte weiter voran. Sie hatten nur zwei große Kanus genommen, damit sie nicht weiter auffielen. Drei hatten sich zudem im Bootsinneren unter Decken verborgen, damit es wie Fracht aussah, die die anderen fünf transportierten. Acia stand am Bug und starrte in die Finsternis. Plötzlich wies sie die anderen an, sich zu ducken. „Vorsicht!“, murmelte das Mädchen und zog den Kopf ein. Das laute Knistern hatte eine Gondel angekündigt und diese schob sich über den dicken Draht über den Kanal. Ganz langsam. Wer in ihr drin saß, konnte man nicht erkennen – dazu war es zu dunkel. Und der Insasse hatte nicht das Licht angeschaltet.

„Lionel? Wer sitzt da in der Gondel drin?“, flüsterte Acia leise ihrem Hintermann zu. „Soweit ich das beurteilen kann, sitzen da zwei Mädchen drin“, flüsterte Lionel zurück. „Und wo wollen sie hin?“, fragte Acia zurück. „Zu unserem Treffpunkt“, sagte der Junge und sah Acia an.

Die Gruppe fuhr so lange weiter, bis Askar einen Ton von sich gab. „Hier ist es!“, murmelte er und deutete auf einen langen Bootssteg. „Wir hätten mit einem Zeppelin herkommen sollen“, meinte Acia und sah sich um. „Carry?, Jesse?, Josh?, ihr könnt herauskommen!“ Die drei Kinder krochen unter der stickigen Decke hervor. Jesse hustete. „Das ist aber ganz schön unbequem da drunter“, bemerkte er und schnappte nach Luft. „Kommt jetzt“, rief die Anführerin leise. „Wo sind denn Caitlin und Giada?“, fragte Josh und sah sich um. „Schon drin“, erwiderte Askar. „Sie sind gerade über uns hinweg geflogen.“ – „Dann waren die beiden das in der Gondel?“, fragte Carry und sah Askar an. Dieser nickte. „Ja“, sagte er knapp und folgte Acia und Lionel, die bereits an die Mauer getreten waren, die jenseits des Steges lag. Etwa einen halben Kilometer weiter war ein Tor angebracht.

„Wie kommen wir jetzt darüber?“, fragte Josh. „Alles geplant!“, murmelte Acia und schon flog ein Seil die Mauer herab und landete vor Carry. „Dann los!“, flüsterte Acia dem rothaarigen Mädchen zu und dieses ergriff das Seil und kletterte nach oben. Sie sprang eher als sie kletterte und Jesse folgte ihr. Dann kamen Lionel und Askar, die genauso gut klettern konnten, wie die beiden, die schon beinahe oben waren. Acia und Josh hatten so ihre Probleme. Das Mädchen rutschte immer wieder ab, aber mit der Hilfe von Askar, der noch einmal nach unten geklettert war, schaffte sie es dann doch. Josh mühte sich ab, aber er hatte nach einigen Minuten den Dreh raus und schaffte es auch nach oben. „Hallo zusammen“, hauchte ein Mädchen. Neben ihr stand ein weiteres. Caitlin und Giada rollten das Seil wieder auf, nachdem alle oben angekommen waren und letztere schulterte es.

„Wo müssen wir lang, Caitlin?“, fragte Acia nun das eine Mädchen, das nichts trug. Sie war nicht nur die beste im Planen von Angriffstaktiken – mit Giada zusammen – sondern hatte auch als einziges Mädchen die Gabe: Sie konnte die komplette Stadt wie einen dreidimensionalen Plan vor ihrem Auge sehen, wenn es sein musste, und somit fand sie in jedem Gebäude des Ausgang – oder eben den Eingang. Zudem wurden alle Feinde und Freunde, die sie innerhalb dieses dreidimensionalen Plans befanden, als orangefarbene Silhouetten dargestellt. Caitlin war die einzige, die diese Gabe beherrschte und verdankte dies einem sehr genialen Crossing Over-Phänomen, das sie durch die Infektion mit dem Virus erhalten hatte.

Ein Arzt hatte ihr versehentlich das falsche Medikament injiziert, obwohl Caitlin eine stattliche Summe hatte zahlen müssen, damit der Arzt ihr das Gegenmittel gab. Nachdem die Impfung stattgefunden hatte, war Caitlin mehr als eine Woche lang nicht ansprechbar und hatte sich in ihrem Zimmer im Haus verschanzt. Aber dann wachte sie aus diesem Trauma auf und hatte diesen dreidimensionalen Plan das erste Mal gesehen – und damit die Controller kennengelernt, von denen sie schon so manches gehört hatte. Während das Mädchen als Führerin durch den Palast der Macht eilte, folgten ihr die anderen sechs Kinder. So kamen sie recht zügig voran, auch wenn sie mehr als ein dutzend Mal stoppen und sich verstecken mussten, da die Palastwache herumstrich und die Gänge inspizierte.

„Und wo genau liegt dieser ominöse Zettel, hinter dem wir her sind, Acia?“, fragte Jesse und stupste Acia an der Schulter an. „In Themmas Gemächern. Wie weit ist es noch?“, fragte die Anführerin der Controller das Mädchen ganz vorne an der Spitze. „Wir sind da!“, murmelte Caitlin. „Giada? Wenn ich bitten dürfte.“ Die Angesprochene wurde durchgelassen und legte das Seil ab. Dann hockte sie sich hin und machte sich an die Arbeit.

Aus ihrer Hosentasche holte sie einen kleinen Schraubenzieher heraus und steckte  ihn in das Schloss der Tür hinein. Sie drehte ihn dann so lange herum, bis die Tür nachgab und es klickte. Giada drückte die Klinke herunter und die Tür sprang auf. „Guten Abend“, murmelte eine kalte Stimme. Eine Silhouette schälte sich aus dem Dunkel und kam auf die acht Kinder zu. „Still“, befahl Acia und wartete einen Moment. Dann trat sie auf die Silhouette zu und trat dagegen. „Kommt!“, rief die Anführerin dann leise und alle anderen folgten ihr. Themma Tighhoor musste sich schon bessere Täuschungen einfallen lassen, damit sie die Controller aufhalten konnten – aber eine Silhouette, durch die man einfach hindurchgehen konnte, war, in Acias Augen zumindest, nicht sehr originell.

Die Gemächer der Kanzlerin waren dunkel, aber so ordentlich, dass jede Reinigungsfachkraft schamlos im Boden versunken wäre. In einer Ecke stand ein Laptop, der angeschaltet war. „Caitlin? Geh du mit Lionel, Askar und Giada nach hinten und seht mal da nach dem Zettel“, sagte Acia und fuhr fort. „Ich gehe mit den drei anderen dahinten hin.“ Sie deutete auf den Computer und alle setzten sich in Bewegung. Carry ergriff die Funktastatur, die neben dem Computer stand, und drückte probeweise eine Taste. Ein Bildschirmschoner deaktivierte sich und zum Vorschein kamen wirre Buchstaben und Zahlen, die durch ein Programmfenster schwirrten. „Was machte sie da?“, fragte Jesse und sah sich den Wirrwarr an.

„Was wohl“, bemerkte Josh. „Sie hat ihre Dateien geschützt.“ – „Das ist schlecht“, fuhr Acia dazwischen. „Sie hat ganz sicher den Zettel eingescannt und bestimmt schwirrt er gerade durch diesen Wirrwarr und wir finden ihn nicht.“ – „Dann können wir ihn doch mitnehmen“, schlug Jesse vor und steckte das Ladekabel, die Empfangsbasis der Funktastatur und das Kabel für den weiteren Bildschirm aus und klappte den Computer zu; dann nahm er ihn an sich. „Dann aber weg hier!“, rief er. „Leute“, rief Acia leise durch das Schlafzimmer der Kanzlerin. „Kommt ihr?“

Statt einer Antwort hörte sie nur ein meckerndes Lachen aus der Ecke, in die die vier anderen gegangen waren.

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