„Wie könnt ihr!“ Jones war rasend vor Wut, als die fünf Jugendlichen ihn in die Halle schleiften. Er war mit Seilen gefesselt und musste im Gänsemarsch gehen, damit er nicht hinfiel. „Ihr Bastarde! Lasst mich los! Ich hetze euch die Ilaner in spätestens drei Sekunden auf den Hals!!!“
„Machen Sie mal halblang“, drang die Stimme eines Mädchens von vorn und Jones sah auf. „Du?“, fragte er und sah Acia hasserfüllt an. „Kennst du mich noch? Damals, vor langer Zeit… Du solltest mich umbringen. Ich hab’s nicht vergessen.“ – „Das ist ewig her!“, stöhnte Jones. „Was willst du?“, blaffte er dann. „Den Zettel“, erwiderte Acia ungerührt und ihre Stimme hatte einen kühlen Unterton. Plötzlich erscholl eine Stimme vom Podest.
„Was hat er hier zu suchen?“, fragte ein Junge laut, kaum älter als Acia und sah den Mann an. „Schafft ihn fort!“ Jones blickte noch etwas höher und starrte den Jungen an. Er taumelte und fiel auf den Boden. „Was tust du hier? Ich dachte, ich hätte dich verloren…“, murmelte er und wurde von den fünf Jungen wieder auf die Beine gezogen. „Nein!“, rief Jesse dazwischen, der mit den anderen unter dem Podest hervorgekommen war. „Er bleibt hier! Acia? Wir haben uns entschieden.“ Die Führerin der Controller verzog den Mund zu einem Lachen, dann sah sie Jones kalt an. Der Junge, der auf dem Podest stand, sprang in die Höhe und flog auf Jones zu. „Ich will dich nie wieder sehen!“, schrie er dabei und schien zu fliegen.
Jones konnte sich nicht wehren. Er stand, umringt von um die dreihundert Kindern und Jugendlichen, gefesselt da und sah den Jungen; seinen Jungen. Er kannte ihn gut. Und auch den Grund, der es wert war, ihn zu hassen. Im Flug hielt sich der Junge an einer Eisenkette fest und schwang in den Höhen der Fabrikhalle. Er riss einen Nagel aus einem Brett, das an der Decke befestigt war und warf ihn mit gefährlicher Zielsicherheit mit der Spitze nach unten auf den Mann zu. „Verschwinde!“ – „Dillion“, hauchte Jones und machte einen Satz zurück. Er war jedoch nicht schnell genug und der Nagel fiel haarscharf an seinem Gesicht vorbei und bohrte sich den in den Mantel. Jones‘ Augen weiteten sich vor Schreck und panisch wand er eine Hand aus einer Schlinge. Einer der Jungen, die ihn festhielten, bemerkte das.
„Rühr dich nicht!“, befahl der Junge, aber Jones hörte nicht. Er griff in den Mantel und in die Tasche, in die sich der Nagel gebohrt hatte. Dann zog er eine Rolle Nahdynamit heraus und schleuderte sie unbeholfen an der Zündschnur durch die Luft. Der Nagel hatte den roten Zylinder getroffen und explosionsgefährdet gemacht. Der Meisterdieb dachte an seinen Jungen und wusste, dass er für ihn abgeschrieben war. Die Rolle Dynamit flog aus seiner Hand und explodierte in der Luft. Alle wurden von den Füßen gerissen, nur einige wenige Kinder nicht. „Verschwinde!“, keuchte Dillion von der Decke herunter und kletterte durch ein Fenster auf das Dach der Fabrikhalle.
Die anderen rappelten sich wieder auf und starrten Jones feindselig an. „Was wollt ihr von mir?“, fragte Jones, der durch die Druckwelle der Explosion auf den Boden geschleudert worden war. „Den Zettel“, erwiderte Acia zu weiteren Mal und ging in die Hocke. Sie ergriff ein Seil, das um Jones‘ Körper geschlungen war und zog ihn zu sich heran, während sie aufstand. „Und das möglichst bald!“ Ihre Augen glühten in einer fremden Farbe. „Ich hab den Zettel nicht“, knurrte Jones. „Er ist im Palast der Kanzlerin!“ Der Mann war wütend und verzweifelt zugleich. Diese Menschen hier waren völlig abnormal – und sein Sohn hatte sich ihnen angeschlossen. Das Mädchen nickte langsam mit dem Kopf und die fünf Jungen ließen die Seile um Jones‘ Körper los. Diese fielen auf den Boden und Jones war frei. Er stolperte durch die Menge der Anwesenden dem Tor ins Freie entgegen, als sich ihm drei Kinder in den Weg stellten. „Wir lassen Sie doch nicht gehen!“, zischte einer der beiden vor Jones stehenden Jungen. „Wo Sie schon mal hier sind!“
Die Hand des Mannes fuhr langsam in den Mantel und Jones brachte eine Stange Dynamit zum Vorschein. „Dann kennst du mich aber schlecht!“, rief er und zog die Zündschnur von der Stange ab. Es knackte und Jones warf das Dynamit vor die Füße der drei Kinder. Dann sprang er an ihren verdutzten Gesichtern vorbei auf die Rasengittersteine vor der Fabrikhalle und war verschwunden. Es donnerte, als das Dynamit detonierte. Da Josh es mit einem gezielten Fußtritt vor die Fabrikhalle befördert hatte, splitterten nur einige Fenster und Glasscherben regneten auf die Kinder. Die Anführerin war mehr als zufrieden mit sich und ihren Freunden. „Giada? Caitlin? Überlegt euch bitte, wie wir uns den Zettel aneignen können, der jetzt wohl in den Händen von Themma Tighhoor ist.“ – „Gern“, erwiderte Giada und verschwand durch die Menge in ein Hinterzimmer. Caitlin folgte ihrer Freundin und schon bald darauf wussten alle, wie sie Themma Tighhoor um den Zettel erleichtern konnten. Beide Mädchen waren hoch angesehen bei den Controllern, da sie eine beinahe unnatürliche Gabe hatten, einen perfekten Plan zu schmieden. Nur Acia übertraf die beiden gelegentlich. Caitlin war ein eher schüchternes Mädchen in der Schule gewesen, und Mrs Carvan konnte sie nicht leiden, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Allerdings hatte das Mädchen immer ein Faible für alles Mögliche, das mit Kartenmaterial und entfernt auch mit Seefahrt zu tun hatte.
Doch konnte Caitlin nie etwas mit ihren Wissen anfangen, da es in Circur keine Meere oder Flüsse gab, auf denen sie mit einem Schiff in die Freiheit segeln konnte. Und das hatte sie vor, seit sie von dem Großen Abenteuer gelesen hatte. Das war ein Buch, in dem es um Kapitän Jakob Jeyfire ging, der eine Insel entdeckt hatte, auf der nur Freiheit herrschte. Aber Caitlin vermisste dieses Gefühl so sehr, dass sie oft nachts über die Dächer Circurs spazierte und an die endlose Weite des Himmels dachte. Eines Nachts, als sie wieder auf den Dächern wandelte, bemerkte sie eine Unruhe in einer Seitenstraße und sie spähte über die Dachkante. Zwei Männer hatten getrunken und prügelten sich in einer Gasse. Das Mädchen hatte einfach Angst, dass die beiden Männer sie erblicken könnten, rollte sich auf den Rücken auf das Dach und schloss die Augen. Während sie damals regelmäßig geatmet hatte, bekam sie erste Eindrücke ihrer Gabe. Es war zwei Tage nach ihrer Impfung gewesen.
Und drei Tage, nach der Aufnahme bei den Controllern. Das Mädchen erkannte Circur an den markanten Gebäuden, die grünliche Konturen aufwiesen. Und zu des Mädchens Schrecken konnte sie trotz der geschlossenen Augen immer noch sehen, was in der Gasse unter ihr geschah. Am nächsten Morgen fanden die Anwohner der Gasse vor ihrer Tür zwei Menschen, die nach Alkohol rochen und keinen Puls mehr hatten. Später erfuhr Caitlin, dass die beiden Männer sich wegen einer Flasche Schnaps gestritten hatten, die sie in einem Wirtshaus gestohlen hatten. Und dann schwor sich das Mädchen, für Gerechtigkeit zu sorgen und allen Menschen ein Leben in Freiheit zu schenken.
Giada, Caitlins beste Freundin, hatte sich auf ähnlichem Weg entschlossen, den Controllern beizutreten. Nach einem tödlichen Unfall der Eltern musste Giadas Schwester für jene sorgen, aber irgendwann wurde ihr das zu viel und sie verschwand. Vergeblich suchte Giada in ganz Circur nach ihr und kam irgendwann zu einem Haus, in dem die Schwester vor einiger Zeit gesehen worden wäre. Als Giada klingelte, erfuhr sie von einer hochgewachsenen Frau, dass sie dieses Mädchen wohl kenne und gesehen hätte, aber dass es vor einiger Zeit verstorben wäre. Giada konnte das nicht glauben und verlangte damals, die Leiche sehen zu können, was ihr aber verwehrt wurde. Nur ein Name fiel im Zusammenhang vom Tod von Giadas Schwester. In ihrer Trauer erkannte, das Mädchen nicht das Gesicht der Frau, den bekannten Klang der Stimme oder gar die starke Persönlichkeit, die ihre Schwester immer gehabt hatte.
An dem Tag beschloss Giada, sich den Controllern anzuschließend. Alsbald hatte Lionel dann auch ihre Fähigkeiten überprüft und sie als Schloss-Knacker eingestuft. Giada freundete sich schnell mit Caitlin an, was wohl auch an der Geschichte lag, die beide hierher geführt hatte. Ein Mord. Und ein Verlust, der niemals würde ersetzt werden können.