„Gut. Wartet!“, rief Iris dann den anderen zu. Die hatten wohl verstanden und warteten vor der Halle, bis das Mädchen die Portraits herumgegeben hatte. Lionel hatte ihr eine gute Beschreibung geben können und in der alten Druckerpresse hatte sie das Portrait vervielfältigt. Nun machten sich alle auf den Weg; bis auf Lionel, Askar, Acia und die drei anderen. Die Anführerin war die erste, die mit den dreien sprach. „Hallo zusammen. Ich bin Acia Merchant…“
„Carry!“, sagte Carry und sprang von dem Podest herunter; dann schüttelte sie Acia die Hand. Nun kam auch in die beiden Jungen Leben und sie sprangen ebenfalls von dem Podest herunter und stellten sich vor.
„Josh.“
„Jesse“, sagte der andere.
„Was macht ihr hier?“, fragte Carry, die nun neugierig geworden war und ihre Übelkeit vollständig vergessen hatte. „Wir… kämpfen für… Gerechtigkeit“, erwiderte Askar ehe Acia antworten konnte. Trotzdem klang die Antwort nicht wirklich überzeugend. „Nun, Askar hat Recht“, sagte Acia. „Wir versuchen, dass Circur gerecht bleibt… Das ist ja leider nicht so.“ Acia seufzte. „Und wieso habt ihr es für nötig gehalten uns drei… zu entführen?“, fragte Jesse schneidend. Lionel tippte die Anführerin an und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das Mädchen riss die Augen weit auf und musterte die drei Kinder erneut. „Nun. Lionel hat bei euch … etwas festgestellt… Setzt euch doch einfach mal, dann erzähle ich euch die Geschichte der Controller.“
„Es begann vor etwa sieben Jahren“, setzte Acia an. „Zwei Kinder fanden es ungerecht, dass ihre Eltern bei der Verwüstung durch das Virus gestorben waren. Sie gingen zum Palast der Macht und forderten einen hohen Tribut, um den Verlust der Eltern vergessen zu können, was ihnen bis heute nicht gelungen ist. Die Kanzlerin interessierte das nicht und sie schickte die beiden weg. Eine Reihe seltsamer Ereignisse im Palast, die daraufhin folgten, veranlassten die Kanzlerin jedoch, den beiden eine Fabrikhalle zu geben, damit diese Ereignisse aufhörten. Das geschah auch, da die beiden Kinder den Terror, den sie nachts im Palast veranstaltet hatten, nun aufhörten und in die Fabrikhalle zogen. Doch kurz darauf schickte Themma Tighhoor das Virus in den Stadtteil, indem die Fabrikhalle stand. Die Halle blieb ganz, nur eines der Kinder starb. Ein Junge, der alles dafür gegeben hätte, dass er es noch nicht täte. Die Schwester des Jungen war von nun an ruhelos und versammelte alle ihre Freunde, die noch nicht erwachsen waren und arbeiteten. Die Controller waren geboren und kletterten über die Dächer der Stadt. Sie brachten Unheil, wo sie nur konnten. Immer mehr Kinder und Jugendliche schlossen sich ihnen an. Bald schon bestand die Gruppe aus über siebenhundert Mitgliedern. Aber dann erfand ein Mann eine Uhr, die alles verändern sollte. Sie löschte beinahe die gesamte Stadt aus und mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen starb. Der Erfinder hatte gerade noch Zeit, die Uhr in vier Teile zu zerspalten und jedem Element eines anzuvertrauen. Dann starb er. Nur er weiß, wie die Uhr zusammengebaut werden kann. Die Kanzlerin ist hinter dieser Uhr her – seit sie eine Prophezeiung von einer Frau gehört hat.
Sie werden kommen und Sie vernichten. Drei Kinder, die den Tod bezwingen werden, und Sie, Miss Tighhoor stürzen werden…
Die Frau überlebte den Tag nicht und wurde von den Ilanern ermordet. Die Kanzlerin erhöhte die Aussendung des Virus‘ auf einmal im Jahr. Die Kinder, die Themma Tighhoor stürzen könnten, können so niemals geboren werden. Wir Controller suchen diese Kinder und das Uhrwerk, das die Kanzlerin zu stürzen vermag. Und wie es scheint, hat sie einen gewissen Vorsprung. Sie hat einen Mann darauf angesetzt, der die Teile der Uhr wieder zusammensuchen soll. Dann will sie den Erfinder aus dem Totenreich zurückholen und die Uhr zusammensetzen lassen…“ – „Woher wisst ihr das?“, fragte Josh und blickte die drei Controller fragend an. „Das Mädchen, das ihren Bruder verloren hatte, sitzt vor dir“, erwiderte Acia und fuhr fort. „Ich habe mich ein wenig in den einzelnen Stadtteilen umgehört und einen Trupp in den Palast beordert, der mir das erzählt hat. Sie sind heil wieder herausgekommen.“ – „Es tut mir leid“, flüsterte Carry und ergriff Acias Hand und drückte sie einmal kräftig.
„Und was willst du nun mit uns machen?“, fragte Jesse und sah die beiden Jungen an, die neben Acia saßen. „Möchtet ihr euch uns anschließen?“ Acia klang erheitert, Carry, Jesse und Josh sahen sich an. Sie hatten Bedenken. „Warum?“, fragte schließlich einer der beiden Jungen. „Die einfache oder komplexe Antwort?“, fragte Acia, erzählte aber direkt die komplexere Antwort der beiden und wartete auf keine Reaktion der drei Kinder. „Durch das Virus hat Themma Tighhoor nicht nur die Ilaner geschaffen – diese Menschen können besonders gut sehen, hören und schnell laufen. Die Kanzlerin benötigte viele hundert Genmanipulationen, um das zu erreichen, was sie wollte. Doch eines ging schief: Eines der Gene fand einen Weg aus dem Labor und breitete sich nachts heimlich in der ganzen Stadt aus. Aus Menschen spalteten sich fünf Rassen. Die normalen Menschen, die von dem neuen Gen verschont blieben. Die Ilaner, die der Kanzlerin bedingungslos gehorchten und die Ragami. Geisterhafte Wesen, die in der Unterwelt Circurs leben. Zwei weitere Rassen waren die Foxen, adlerähnliche Tiere, die am Himmel Circurs ihr zuhause haben. Und dann Menschen, wie mich, Lionel und Askar – und euch.“
„Was willst du damit sagen?“, fragte Jesse und sah Acia beinahe wütend an. „Es gibt Menschen, die eigentlich normale Fähigkeiten ausgeprägt haben. Manche können weiter springen, schneller laufen, die Auren der anderen Menschen bewusst wahrnehmen. Und dann gibt es noch die unnatürlichen Fähigkeiten: Einen vierten Rezeptor im Auge für orangefarbenes Licht…“, erwiderte Acia ruhig, aber dann fuhr Lionel fort. „… oder mit dem eigenen Unterbewusstsein in Kontakt treten. Ich bin leider Gottes der einzige der Controller, der die Auren fremder wahrnehmen kann. Jesse, du kannst, und das ist dir sicher schon aufgefallen, gut klettern und von Ast zu Ast oder Rohr zu Rohr springen. Du weiß auch ziemlich viel. Josh, dir ist sicher schon aufgefallen, dass du dir ziemlich gut Dinge und Pläne merken kannst. Dann wärest du wirklich ein Schatz, wenn ich das mal so bezeichnen darf, da das nicht viele bei den Controllern können. „Carry, du ziemlich weit und hoch springen, nicht wahr?“
Die drei Kinder waren verblüfft, dass der Junge so ziemlich alles über sie wusste. Dann musste das mit dem Gen doch stimmen. „Und ihr nehmt nur Kinder oder meinetwegen auch Jugendliche auf, die eine solche, wie nanntet ihr es noch gleich?, haben?“, fragte Josh. „Genau. Und ihr habt ein Crossing Over– Phänomen.“ – „Das klingt so banal wie absurd“, bemerkte Josh und stand auf. Für ihn klang das alles ziemlich fantastisch, war nicht real, und irgendwie unheimlich.
Da drang ein markanter Schrei zu ihnen durch und eine große Gruppe von Kindern und Jugendlichen stürmte in die Fabrikhalle. Auch Carry und Jesse erhoben sich. „Können wir der irgendwo mal ungestört reden?“, fragte Josh Acia und diese nickte. „Gern. Geht unter die Tribüne. Da stört euch keiner. Es geht da herum.“