Sobald jemand in einer Sache Meister geworden ist, sollte er in einer neuen Sache Schüler werden.
Gerhard Hauptmann
Josh schlug die Augen auf und starrte an die hölzerne Decke. Sein Wecker klingelte. Müde drehte er sich auf die Seite und brachte ihn mit einem sanften Schlag zur Ruhe. Schlaftrunken schlug er die Bettdecke zurück und erhob sich. Leise tapste er zu einem anderen Bett, das in dem Raum stand. „Jesse!“, murmelte er leise und rüttelte an seinem Bruder. „Aufwachen!“ Josh wusste, dass es mindestens noch fünfzehn Minuten dauern würde, bis sein Bruder aus dem Bett kam, aber das war egal. Pünktlich zur Schule kamen sie trotzdem. Der Junge schlurfte zur Tür und drückte die Klinke herunter. Er trat in die Küche und zauberte einen Brotlaib aus dem Brotkasten hervor. Er schnitt dicke Scheiben mit der Brotmaschine ab.
Vier Stück.
Bald würde sicher Carry kommen, um den beiden Jungen wie jeden Morgen bei der Versorgung von Jesse‘ und Joshs Mutter zu helfen. Es klopfte. „Jesse! Kannst du endlich mal aufstehen?“, rief Josh in Richtung des Zimmers, indem sein Bruder immer noch am Schlafen war. Josh ging zur Tür und öffnete sie. „Morgen“, brummte er und bedeutete dem Mädchen, einzutreten. „Na, noch nicht angezogen?“, fragte Carry neckisch und schüttelte ironisch den Kopf, sodass ihre roten Locken herumwirbelten. Sie trug eine orangefarbene lange Hose, die perfekt zu ihrem Haarschnitt passte und von ihrem beigefarbenen Hemd ergänzt wurde.
Sommersprossen zierten ihr Gesicht und eine goldene Halskette baumelte um ihren Hals. Als Carry an die Küchenzeile trat, klimperte ihr goldener Armreif, den sie immer trug. Josh blickte an sich herunter, nachdem Carry ich wie jeden Morgen darauf hinwiesen hatte, dass er wieder mal verpennt hatte und noch nicht angezogen war. Außer einem Boxershort hatte er nichts an. „Jetzt geh schon!„, sagte Carry, während sie den Tisch deckte. Sie fühlte sich bei den beiden Jungen und deren Mutter schon viel mehr zu Hause, als bei ihren Eltern. Josh ging zurück in sein Zimmer, das er sich mit seinem Bruder teilen musste. Das Badezimmer grenzte direkt an dieses Zimmer an. Josh wollte es gerade betreten, da merkte er, dass abgeschlossen war. „Sag mal Jesse, wie lange bist du schon da drin?“, fragte der Junge und klopfte an die Tür. „Erst seit fünf Minuten!“, kam es aus dem Bad zurück. „Dann beeil dich mal!“, rief Josh und trommelte mit den Fingerknöcheln an die weißlackierte Holztür. Fünf Minuten später klickte es im Schloss und Jesse trat aus dem Badezimmer. „Morgen“, grinste er. Seine dunkelbraunen Haare waren noch nicht ganz trocken, und er hatte wie immer den USA-Anstecker mit der amerikanischen Flagge an seinem ebenso amerikanischen T-Shirt. Er trug dazu eine beigefarbene Hose, die er sich von seinem Bruder geliehen hatte und ihm eigentlich viel zu groß war, sodass er einen Gürtel tragen musste. Warum Josh größere Klamotten als er trug, war unverständlich, wo doch beide gleichalt, gleichgroß und auch irgendwie sonst gleich waren.
„Na endlich“, stöhnte Josh und drängte sich an seinem Bruder, der sich gerade seine Sandalen anzog, ins Badezimmer. Mit einem sanften Stoß beförderte Josh seinen Bruder aus dem Türrahmen und schloss sich ein. Jesse grinste und zog dann die Jalousie in seinem Zimmer hoch. Er ging in die Küche und setzte sich an den Küchentisch. Carry aß derweil schon ihr Brot, das sie mit einer hauchdünnen Schicht Kirschmarmelade bestrichen hatte. „Guten Morgen“, brachte sie mit vollem Mund hervor. „Morgen, Carry“, erwiderte Jesse und bestrich sich sein Brot mit Butter. Josh kam herein und setzte sich auf einen weiteren freien Stuhl. Er hatte dieselben langen Haare, wie sein Bruder und auch die gleiche Haarfarbe. Aus dem Kleiderschrank seines Bruders hatte er ein neongrün-saftgrün-hellblau-dunkel-blau kariertes Hemd hervorgezaubert, aber leider war er nicht sonderlich begabt darin, es auch zu zumachen. Eine dunkelblaue Hose mit unzähligen Taschen an den Hosenbeinen hatte er jedoch aus seinem Kleiderschrank genommen. Als Carry das Hemd sah, stand sie auf und ging zu Josh. „So kannst du doch nicht in die Schule gehen!“, tadelte sie. Josh protestierte, Jesse kicherte und Carry knüpfte das Hemd noch einmal auf und ordentlich wieder zu.
Nachdem alle mit dem Frühstücken fertig waren, räumten sie gemeinsam das Geschirr in das Spülbecken – sie wollten es später spülen. Jesse holte einen sauberen Teller aus einem Schrank hervor und stellte ihn auf ein Tablett. Auf den Teller legte er die vierte Brotscheibe und butterte sie. Anschließend strich er Honig darauf. Josh hatte ein Glas Wasser in der Hand und stellte es zu dem Teller auf das Tablett. Das Brot schnitt Jesse derweil in kleine Stücke. Sie standen vor der Holztür, die zu öffnen von ihnen jeden Morgen viel Mut verlangte. Carry ergriff schließlich die beiden Klinken und drückte sie herunter. Mit einem Stoß schwang die Doppeltür auf. Jesse hatte das Tablett in der Hand und trat als erster in den Raum ein, gefolgt von Josh und Carry. „Morgen, Mom!“, sagte Jesse so fröhlich, wie er es vermochte, als er seine kranke Mutter in dem Himmelbett liegen sah. Sie starrte ihn ausdruckslos an, dann drehte sie ihren Kopf zu ihrem anderen Sohn. Mit brüchiger Stimme brachte sie ein „Guten Morgen“ zu Stande, wandte den Kopf aber dann wieder in die anderen Richtung und ließ sich noch ein Stück tiefer ins Kissen sinken. Die beiden Jungen traten an das Bett heran, während Carry zum Fenster schritt und die Jalousie hochzog, um das dämmrige Licht aus dem Zimmer zu vertreiben.
Der morgendliche Ausblick auf die Stadt war einmalig. Diesen Morgen lag kein Nebel über den Straßen. Carry konnte die Menschen sehen, die durch die engen Gassen hasteten und auf dem Weg zur Arbeit waren oder eine Arbeit suchten. In der Ferne brodelten die Fabriken und schleuderten schwarze Abgase durch enge Schlote in die Luft. Das Mädchen konnte von hier aus in den Innenring sehen und erkannte die vielen dort leerstehenden Häuser, die vom Zerfall bedroht waren. Doch die Kanzlerin interessierte so etwas nicht – sie hatte nur ihre eigenen Pläne im Kopf und da waren Renovierungsarbeiten nicht mit inbegriffen.
Ein dunkel gekleideter Mann huschte verstohlen durch die Menge. An seiner Kleidung war er gut zu erkennen. Carry wunderte sich. Vielleicht hatte er ja etwas gestohlen? Das war nicht einmal illusorisch, da die Arbeit nicht gut genug entlohnt wurde. Carry hatte Glück – ihr Vater arbeitete in einem bedeutenden Buchhandel, Carrys Mutter war oberste Chefin des Gondelpostsystems. Den Palast der Macht konnte Carry als undeutliche Silhouette am Horizont erkennen. Verschwommen sah sie die erleuchteten Fenster, und die in den Wolken verschwindende Spitze des hohen schwarzen Turms. Sattsehen konnte man sich an diesem Ausblick nie, aber Carry stand unter Zeitdruck. Bald schon mussten sie in die Schule. Sie sah auf ihre Armbanduhr, die sie an demselben Arm trug, wie ihren Armreif.
7:10 Uhr.
Sie hatten noch genug Zeit, bis sie pünktlich in der Schule erscheinen würden. Anwesenheitspflicht war ab 8:00 Uhr. Das Mädchen drehte sich um und gesellte sich zu den beiden Jungen und deren Mutter. Auf den Nachtschrank lag die wunderschöne Armbanduhr Cerydwen Pizarros, die sie einmal von ihrem Mann geschenkt bekommen hatte. Carry fiel auf, dass die Mutter von Tag zu Tag schlechter aussah, aber das wollte sie den Jungen nicht sagen. Sie hatten sich schon damit abfinden müssen, dass ihre Mutter Cerydwen an dem Virus erkrankt war – und der Vater an ihm gestorben. Die Familie war vom Äußersten Nordviertel in das Äußerste Ostviertel gezogen, da schickte Themma Tighhoor das Virus in das Ostviertel. Zweitausend Menschen starben, vierhundert erkrankten; nur drei hatten sich rechtzeitig impfen lassen und überlebten. Jesse und Josh waren gerade in der Schule im Äußeren Südviertel gewesen und hatten deshalb nichts von der Gefahr mitbekommen.
Carry fand das politische System der Stadt ungerecht, aber wehe demjenigen, der das laut aussprach. Themma Tighhoors Schergen waren überall – die gefürchtete Ilaner – und vielleicht schnappte einer von ihnen den Tadel am politischen System auf. Und dann war keiner vor der Rache der Kanzlerin sicher…
Die beiden Brüder saßen an der Bettkante des Himmelbettes und halfen ihrer Mutter beim Einnehmen des Frühstücks. Sie konnte sich nicht mehr so gut bewegen, da der Befall der Krankheit sie ziemlich geschwächt hatte. Gesund werden konnte Cerydwen Pizarro nur, wenn Josh und Jesse Geld für den Impfstoff auftreiben konnten. Die beiden arbeiteten schon vehement, doch das Geld reichte gerade einmal um nicht an der Armutsgrenze leben zu müssen. Carry stand neben dem Bett und wartete. Ihre Familie – sie, und ihre Mutter Rana und ihr Vater Peer – unterstützten die Familie Pizarro sogar finanziell, da Josh und Jesse, die gerade einmal so alt wie Carry waren, noch nicht arbeiten gehen konnten. Nur kleinere Tätigkeiten, wie etwa Zeitungen austragen oder Straßenschienen verlegen, hielten die Pizarros über Wasser. Carrys Familie war zu der Entscheidung gekommen, als die Familie Pizarro in das Haus eingezogen war. Das Mädchen hatte sich sofort nach dem Unglück dazu bereiterklärt, den beiden Jungen bei der Versorgung ihrer kranken Mutter zu helfen und auch Carrys Eltern wollten etwas dazu beitragen, weshalb sie sich zu der finanziellen Unterstützung von einhundertfünfzig Flinen im Monat entschieden hatten.
Nach einiger Zeit blickte Carry erneut auf ihre Armbanduhr und erschrak. Wenn sie jetzt nicht losgingen, kämen sie zu spät – und das duldete Mrs Carvan sicher nicht.
7: 30 Uhr.
Sie würden mindestens zwanzig Minuten benötigen, um die Bibliothek im Äußeren Südviertel benötigen – und die Straßen waren überfüllt. „Können wir?“, fragte Carry und es tat ihr selber Leid, dass die beiden Jungen nur so wenig Zeit mit ihrer Mutter verbringen konnten und zumeist bei Carry ihr Mittagessen einnahmen. Josh und Jesse umarmten ihre Mutter herzhaft und gingen – Josh das Tablett tragend – aus dem Zimmer hinaus. Vorher öffnete Jesse noch ein Fenster und ließ die Luft herein, die an diesem Tag reiner schmeckte, als an anderen.
Dann traten die drei Kinder aus dem Zimmer und Carry schloss die Tür. „Wir sehen uns nachher!“, rief sie und entschwand durch die hölzerne Haustür. Jesse schüttelte den Kopf. „Wo die ihre Fröhlichkeit immer hernimmt… Man könnte meinen, sie trinkt sie morgens zum Frühstück!“ Sein Bruder lachte und stellte das Tablett samt dem was darauf stand in die Spüle. Als Josh sich seine Sandalen angezogen hatte und beide ihre hellbraunen Umhängetaschen – Jesse hatte sich einen USA-Anstecker an die Außenseite befestigt – traten die beiden aus der Haustür und Jesse schloss die Tür ab; dann steckte er sich den Schlüssel ein und sie stiegen die Treppe hinunter.